Einsamkeit mit Weitblick: Vom Wasserfall nahe der Hütte, in der wir in den nächsten Tagen allein sein werden, geht der Blick weit über das Lower Fryatt Valley. Rund 500 Meter unter uns und etwa fünf Kilometer entfernt liegt der See. Der Berg auf der linken Seite ist der Mount Fryatt, 3361 Meter hoch
Ein paar Tage waren wir mal weg: keine Nachbarn, kein Telefon, kein Netz. Offline haben wir unseren Blog weiter geschrieben. Erster Teil: Trekking zur Fryatt Hut
„Ho, ho, ho!“ ruft Susanne und klatscht in die Hände. Ich rede ununterbrochen und laut über blödsinnigsten Alltagskram. Und so wandern wir durch den Wald, eine wandelnde Geräuschkulisse, die sich auf einem deutschen Wanderweg wohl einige Kritik gefallen lassen müsste. Aber erstens trifft man in den unbegreiflich weiten Wäldern des Jasper Nationalparks in den Rocky Mountains kaum Menschen. Und wenn doch, dann kommen die einem ähnlich lautstark entgegen, viele tragen gar ein Glöckchen am Rucksack und trekken bimmelnd durch den Wald, als wären sie beim Almabtrieb.
Es ist „bear-season“. Und, wie sagte es der Verkäufer in einem Outdoor-Shop, in dem wir eine Wanderkarte kauften, so treffend: „Im Auto an einem Bären vorbei zu fahren, das ist ein Vergnügen. Aber wenn dir so ein Kerl auf dem Track begegnet, ist das alles andere als lustig.“ Das beste sei es, menschliche Geräusche zu erzeugen. Man signalisiert den Tieren auf diese Weise, hier kommt eine völlig andere Spezies, laut, doof, unerfahren, am besten aus dem Weg gehen. So hoffen wir, wie die meisten Trekker in Kanada, auf die Vernunft der Bären.
24 Kilometer müssen wir so lautstark wandern. Die ersten sieben verlaufen durch ein eher ödes Waldgebiet, der Weg ist breit, uns begleitet nicht nur das Rauschen des Athabaska-Rivers, sondern hin und wieder auch das des Verkehrs eines Highways auf der anderen Seite des breiten Flusses. Dann geht es tief hinein in den Wald. Nach weiteren vier Kilometern erreichen wir den ersten von drei Campgrounds, die wir auf unserem Weg passieren, ein typischer Back-Country-Platz: Es gibt eine Feuerstelle, zwei grobe Holztische, vier mehr oder weniger klar definierte Stellflächen und eine etwas abseits davon montierte Seilkonstruktion, an der man Lebensmittel bärensicher zwischen Bäumen aufhängen kann.
Vielleicht etwas abgelegen: Rund 24 Kilometer Fußmarsch sind es vom Parkplatz bis zur Fryatt-Hut. Das Schild informiert über die Beschaffenheit des Weges und dass hier zuletzt einige Bären gesehen wurden. Wir sehen keine, nicht einmal durch das Fernglas
Die heutige Wanderung bringt uns an den ersten Sehnsuchtsort unseres Sabbaticals, an einen Platz in den Bergen, an dem wir finden wollen, was sich viele wünschen, die von einer Auszeit träumen: totale Abgeschiedenheit, kein Handy-Netz, kein Internet, keine Anrufe, keine Termine, kein Entourage, kein Facebook. Ruhe. Beim Alpine Club of Canada scherzten sie, hier wären wir Adam und Eva in den Bergen.
Auf dem Weg in unser Paradies treffen wir Ryan und Martin aus Edmonton. Auch ihr Ziel ist das Fryatt-Valley. Allerdings werden sie auf dem Campground vor dem Wasserfall am Ende des Tals übernachten. 400 Meter hoch ist diese „Headwall“, die das Lower vom Upper Fryatt Valley trennt. Und dicht neben den herabstürzenden Wassermassen führt unser Weg hinauf zur Hütte im oberen Teil des Tals. Bereits rund 22 Kilometer haben wir in den Beinen, der windungsreiche Pfad hat uns durch einen düsteren Wald geführt und über einen kilometerbreiten Steinrutsch, wir haben knöcheltiefe Furten durchschritten und einen amethystfarbenen See umrundet. Und jetzt stehen wir hier am Fuß der Headwall, die nach den heutigen Regenfällen und denen der letzten Tage eine Matschrampe ist.
Besuch aus Edmonton: Ryan und Martin wandern zum Campground beim Talschluss. Für uns beginnt hier der letzte Anstieg, wir müssen die „Headwall“ hinauf
Rund 35 Minuten lang kämpfen wir uns hinauf, über wegrutschende Steine und nasse Wurzeln, manchmal auf allen Vieren und im oberen Drittel auch an der Grenze unserer Selbstmotivation. Schließlich die letzten Meter des Anstiegs. Wir sind oben. Und plötzlich, nach nur noch ein paar Schritten durch ein Wäldchen, stehen wir vor dem Ziel unserer inzwischen rund sechseinhalb Stunden dauernden Wanderung: Das also ist die Fryatt Hut.
Ein bernsteinfarbenes Holzhäuschen mit einem grünen Metalldach. Wir betreten es durch einen kleinen Vorraum, in dem Brennholz aufgestapelt liegt, Äxte und Beile stehen bereit, an der Wand ein paar Kleiderhaken und Borde für Kleinkram. Die Tür ist gesichert mit einem Zahlen-Schloss, die Kombination hat uns Keith Haberl vom Alpine Club of Canada per E-Mail geschickt. Wir geben den vierstelligen Code ein und betreten einen etwa 20 Quadratmeter großen Raum.
Ankunft im Sonnenschein. Erschöpft von der mehr als sechsstündigen Wanderung lassen wir die Ausrüstung auf die Terrasse der Hütte fallen
Die gesamte linke Wand nimmt eine Art Schlafregal ein, auf zwei Etagen und durch eine Mittelwand getrennt, gibt es vier Matratzenlandschaften, jeweils groß genug für drei bis vier Schlafsäcke. Auf der gegenüberliegenden Seite gibt es eine Küchenzeile mit vier Kochstellen und Töpfen so groß wie man sie aus Jugendherbergen kennt. Daneben steht ein Kaminofen und ein quadratischer Tisch, umgeben von vier Holzbänken. Komfortabel soll es hier für 12 Menschen sein, als Notunterkunft taugt die Hütte sogar für 16. Wir sind in den nächsten Tagen allein. Und kaum haben wir die Rucksäcke abgeworfen, lugt die Sonne durch die Wolken.
Wir sind ziemlich erschöpft, machen uns einen Tee, hocken auf einer Bank und sehen hinaus. Eine kleine Wiese, von Kiefern gesäumt. Fünf Pfade führen durch das Gras, drei davon zum Creek. Der Fryatt River rauscht lärmend an uns vorbei. Ein großer Stein mitten im eiskalten Gletscherstrom wird in den nächsten Tagen unser Waschplatz sein (wir haben extra eine leicht abbaubare Flüssigseife dabei), da werden wir auch unser Trinkwasser holen. Und über dem silbrig glitzernden Wellen erheben sich die markanten Gipfel der Bergkette dieses Talschlusses. Der höchste ist der Mount Fryatt (3361 Meter), besonders spektakulär aber sieht der Brussels Peak aus, 3161 Meter hoch, die letzten 300 ragen aus dem Gebirgsstock wie ein Tafelberg.
Wettersturz: Innerhalb weniger Minuten zieht ein Gewitter auf, es bringt Hagel und Regen, die Temperatur fällt auf unter sieben Grad
Inzwischen hat sich der Himmel über dem Brussels Peak dramatisch verdüstert. Ein Donnern lässt uns zusammen zucken, und plötzlich stecken wir mitten in einem Gewitter von geradezu biblischem Ausmaß. Erst klatscht Regen gegen die Scheiben, dann trommeln Hagelkörner auf das Dach. Innerhalb weniger Minuten sinkt die Temperatur von deutlich über 20 auf nurmehr 7 Grad. Wir feuern den Kaminofen an und machen uns was zu Essen warm. Aus Deutschland haben wir Trekking-Mahlzeiten mitgebracht. Das Trockenfutter wird mit heißem Wasser aufgegossen und soll dann Menüs ergeben, die große Namen tragen wie „Nudeln mit Pesto“ oder „Risotto Toskana“.
Der Regen geht, die Kälte bleibt. Zum Glück sitzen wir im Trockenen. Wir machen uns das Abendessen warm, Trekkingmahlzeiten sind Trockenfutter, sie werden mit kochendem Wasser übergossen, müssen dann ein paar Minuten ziehen, bis man sie aus der Packung löffelt. Das Essen ist vor allem nahrhaft…
Wir löffeln das warme Essen aus den Tüten und sehen dem inzwischen nachlassenden Regen zu. Wie werden sich die nächsten Tage anfühlen? Was werden wir hier finden? Bringt uns die Abgeschiedenheit die Ruhe, die wir suchen? Oder ist das eigentlich nur nervend, immer allein zu sein?
Lichtblick am Abend – in den Rocky Mountains nennt man es „Alpenglow“