Portugal im Sommer: Radtour am Fluss Tejo, vorbei am fast 500 Jahre alten „Torre de Belém“
Ein Reisebericht von Susanne Baade und Dirk Lehmann
Bequem sind wir geworden. Unsere Wohnung in Lissabon ist ein perfekter Ruheort: Aus jedem Zimmer und von der Terrasse blickt man über die Stadt, Richtung Tejo, den Stadtteil Graça oder die Baixa, und im Garten unter dem Orangenbaum steht eine Liege. Unsere Aktivitäten beschränken sich momentan auf Einkaufen und Ausruhen.
Doch heute ist Dirk unruhig. Er hat gestern einen Rennradfahrer gesehen, den ersten in Lissabon, und hat nun Phantomschmerzen. Ich habe den Verrückten auch beobachtet, wie er zwischen Autos und Straßenbahnen die schmale Kopfsteinpflasterstraße hinunter gerast ist. Es sah gefährlich aus, und deshalb bin ich ein wenig zurückhaltend als Dirk vorschlägt, Fahrräder auszuleihen.
Aber ich bin auch neugierig. Vor zwanzig Jahren galt der Verkehr in der Stadt als so gefährlich, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, mit dem Rad zu fahren. Noch vor zehn Jahren erzählte mir eine Freundin von einem Kollegen am Ocenario, der sei Holländer und fahre tatsächlich mit dem Rad ins Büro. Doch zuletzt muss sich einiges verändert haben, am Tejo entstanden einige Radwege. Genutzt werden die vor allem von schick gekleideten Sportlern, weniger um von A nach B zu kommen. Die Portugiesen sind sehr autoverliebt, und es wird wohl noch mehr bedürfen, als einige neue Wege, bis Radfahrer Teil des Verkehrs werden.
Bei Bikeiberia bekommen wir zwei rote bequeme Räder und fahren vom Cais do Sodré auf die acht Kilometer lange Bikestrecke, die uns am Tejo entlang nach Belém führt. Es ist ein Tag wie im Bilderbuch: Die Sonne scheint, ein leichter Wind weht und treibt die Segelboote über den Fluss. Einige Cyclisten und Jogger kommen uns entgegen, manche grüßen tatsächlich. Auf dem Rückweg halten wir an einem Café am Kai und finden vor allem eins: Die Strecke ist viel zu kurz. Auch Lissabon sollte endlich fahrradfreundlicher werden, schließlich haben das andere Städte wie New York oder Paris hinbekommen.
Lissabon hat eine U-Bahn, die heißt Metro. Und Lissabon hat eine Straßenbahn, die heißt Eléctrico. Wer beim Fahrer der Tram ein Ticket kauft, zahlt 2,85 Euro pro Person und Fahrt. Wer das Ticket vorab in einem Kiosk oder Café kauft, zahlt 1,25 Euro. Dafür braucht man eine Giro-Karte, die kostet 50 Cent und wird mit der gewünschten Anzahl an Fahrten aufgeladen. U- und Straßenbahn verwenden dieselbe grüne Karte. Doch sobald man etwa eine Fahrt mit der Eléctrico aufgebucht hat, ist die Karte quasi kontaminiert, man kann sie nicht mehr für die Metro verwenden und braucht eine zweite Greencard. Auf die offenkundige Absurdität des Systems angesprochen, zeigt sich der Fahrkartenverkäufer an der U-Bahn-Station am Flughafen empört. Warum solle eine Karte für beides funktionieren? Fragt er und fügt hinzu: „Fisch ist Fisch. Und Fleisch ist Fleisch. Oder etwa nicht?“ Wir nicken resigniert und erklären uns bereit, weitere Karten zu kaufen. Wir stecken die Kreditkarte in den Automaten. Die funktioniere hier nicht, herrscht uns der Vorsteher der Station am internationalen Flughafen von Lissabon an. „Wir akzeptieren nur portugiesische Karten.“ Aber selbstverständlich. Wir gehen hoch und nehmen ein Taxi.
Der Fahrer lacht rau, als wir ihm die Geschichte erzählen und braust mit mehr als 80 Km/h in Richtung Innenstadt. Die Straße führt am Fluss entlang. Erst geht es durch ein Industriegebiet, dann vorbei am Hafen mit Fracht- und Containerschiffen. Vor der Altstadt liegen zwei große Kreuzfahrtschiffe. Ihnen gegenüber wölbt sich das alte Zentrum Lissabons über einen der Hügel: weiße Kirchen, braune Dächer, grüne Bäume, ein Gewirr aus Gassen, Treppen und kleinen Plätzen. Viel zu spannend, um in der Metro drunter herzufahren.
Wir sitzen auf der Terrasse des Miradouro da Graça, einem der Aussichtspunkte, die die selbstverliebten Portugiesen für ihre Hauptstadt geschaffen haben. Hier gibt es ein Open-Air-Café mit grünen Metallstühlen unter ausladenden Bäumen. Vor uns zeigt sich die Stadt (von links nach rechts): Fluss, Rossio, Cristo Rei (Christusfigur), Hängebrücke, Basílica da Estrela. Was eine Aussicht!
Ein schöner Herbstabend, die Sonne steht tief, dennoch kann man im T-Shirt draußen sein. Wir haben zwei Imperiais vor uns stehen, kleine gezapfte Biere, eine Portion Torrada, nur mit gesalzener Butter bestrichenes geröstetes Weißbrot, genießen den Blick und die entspannten Menschen um uns. Ein Sonntagabend im Oktober, nur noch wenige Touristen sind in der Stadt, fast nur Portugiesen sitzen hier. Und alle rauchen.
Fast alle, die wir in den letzten Wochen kennen lernten, griffen irgendwann nach einer Zigarette. Sie sind verständnisvolle Raucher (bis auf den einen, der im Wintergarten des Restaurants paffte) und nehmen höflich Rücksicht (der auf unsere Frage, ob er sicher sei, dass er hier rauchen dürfe, nicht etwa die Kippe ausmachte, sondern den Kellner rief), wenn man sie bittet (und dann doch nach draußen ging). Doch ist auffällig, wie viele sich an den Glimmstengel klammern. Warum? Erträgt man die Krise eher wenn man raucht?
Auf dem Rückweg in unsere Wohnung, über unzählige Stufen und löchriges Kopfsteinpflaster zwischen eng stehenden Häusern, den man ihr Alter selbst im Dunkeln ansieht, zieht plötzlich ein Glimmen über den Nachthimmel. Oh, eine Sternschnuppe! Und fällt uns vor die Füße. Eine Kippe. Jemand hat sie aus einer Wohnung auf die Straße geschnippt. Der junge Mann entschuldigt sich aufgeregt, uns fast getroffen zu haben. Ja, sie sind verständnisvolle Raucher. Und sie hassen Aschenbecher.
Eine modernisierte Altbauwohnung am Castelo São Jorge. 80 Quadratmeter, abgezogene Holzdielen und ein großer Garten im vierten Obergeschoss. Wilde Papageien toben durch die Bäume, ihr Kreischen ist ein verblüffendes Geräusch in der mit Glockenschlagen und Straßenbahnheulen, mit Flugzeugturbinen und Palmengeflatter ohnehin bemerkenswerten Klanglandschaft Lissabons.
Wir haben die Wohnung über AirBnB gefunden. Vermieterin Ana schenkt uns zur Begrüßung ein kleines Paket Kaffee aus der Nachbarschaft. Im Garten stehend erzählt sie uns, dass sie, die Frau von den Kapverdischen Inseln, und ihr britischer Mann eigentlich schon abgeschlossen hatten mit Lissabon und seinem Chaos und nach Südamerika gingen. Was eine Schnapsidee. Sie kamen zurück, beschlossen für immer zu bleiben, und kauften diese Wohnung am Castelo.
Zwei Wochen haben wir hier gewohnt. Nach einem späten Frühstück und einer Bica in der benachbarten Pastelaria haben wir die Stadt erkundet, sind durch das einst runter gekommene Mouraria geschlendert, noch immer gibt es hier Behausungen mit Wellblechdächern und Pappwänden. Wir kommen in das fast kleinbürgerlich Estrela, spazieren durch das Botschaftsviertel und flanieren über die Avenida da Liberdade. Vor allem aber lernen wir die Gassen rund um die über der Stadt thronenden Burgruine kennen.
In einer Wohnung zu sein, erdet das Reisen. Wer nicht ständig ein Zelt aufbauen oder ein Zimmer beziehen muss, kann sich ganz auf einen Ort einlassen. Wir haben viel gelernt über Portugal und seine schöne Hauptstadt (die auch sehr anstrengend sein kann). Vor allem aber erreichten wir auf der Entschleunigungsskala zwischenzeitlich den Traumwert von 10.
Die letzten beiden Nächte verbringen wir in einem Hotel. Das Fontana Park gehört zur Gruppe der Designhotels, und es wirkt wir ein Zukunftsort im behäbigen, modernisierungsresistenten Portugal. Man begegnet uns mit professioneller Gastfreundlichkeit. Und obwohl das Licht gedämpft ist, präsentiert sich das Innere dieses Hauses mit einer unglaublich beruhigenden Klarheit, sehr angenehm im oft auch stressigen Lissabon. Hier begeistern uns selbst die Herausforderungen, etwa dass der Flur mattschwarz ist, dass die Zimmernummern auf dem Boden stehen, und dass schon auf Zehenspitzen stehen muss, will man durch das hoch angebrachte Fenster einen Blick auf die Stadt werfen.
Am Abend sitzen wir im puristisch eingerichteten Sushi-Restaurant des Hotels, tunken Fisch in Soja-Sauce und denken an die nächste Etappe. Nach dem wir viel Zeit gefunden haben in Lissabon, führt der spirituelle Teil unserer Reise zunächst nach Nepal. Wir wollen an einer Trekking-Tour im Himalaya teilnehmen, den Geburtsort Buddhas im Süden des Landes besuchen und im Norden Indiens eine Pilgerstadt.
Gedämpft ist das Licht im Restaurant, gedämpft auch sind die Gespräche. Ein Ort der Ruhe. Damit wird bald Schluss sein. Morgen fliegen wir nach Kathmandu. Die Großstadt ist laut und fordernd und krass und unerbittlich und spannend. Ob wir uns schon nach wenigen Tagen nach dem ruhigen Lissabon zurücksehnen?