Wie romantisch ist ein Strandspaziergang im Schneetreiben bei 2 Grad unter Null und einer steifen Brise aus Nordost? Wo baumelt die Seele in einem Hotel ohne Pool oder Sauna? Was, bitte, muss man sich darunter vorstellen, wenn es heißt, das Küchenteam verwöhnt unsere Gaumen? Eigentlich wollten wir für ein paar Tage an die See. Wir googeln uns durch eine Welt der leeren Versprechungen. Doch erst sind die Hotels zu teuer. Und als wir eins fanden, das bezahlbar schien – 171 Euro pro Nacht im Doppelzimmer, immerhin inkl. Frühstück –, aktualisierte der Deutsche Wetter Dienst seine Vorhersagen für das Osterwochenende. Es soll kalt werden, „zu kalt für die Jahreszeit“, windig, „Sturmböen möglich“, Schneefall. Susanne sagt: „Wollen wir nicht lieber in eine coole Stadt fahren?“
Nach einigem Hinundher entscheiden wir uns für Leipzig. Wir nehmen uns vor, die Baumwollspinnerei zu besuchen (Susanne träumt davon, Neo Rauch zu sehen), in den vielgerühmten Zoo zu gehen (ich interessiere mich für das Menschenaffen-Gehege Pongoland), wir wollen durch die Innenstadt ziehen, den Osten erkunden, essen, trinken. Und dann geht es wieder zurück. Drei Tage Heldenstadt. Ein Wochenendtrip. Ein Paar auf Reisen.
Zäher Osterverkehr, volle Autobahnen, kurz vor Leipzig beginnt es zu schneien. Viel später als geplant checken wir in unser Hotel ein. Das „Mercure“ ist ein Vier-Sterne-Haus, ein typisches Business-Hotel, möchte man meinen. Aber unser Zimmer ist groß, auf dem roten Teppich steht ein Doppelbett und ein hellblaues Alcantara-Ledersofa. Die Sonne scheint in das Fenster. Auf dem Tisch ein Grußkärtchen und eine Schale mit Obst und Pralinen. Im Hof quatschen einige Mitarbeiter des Hauses, rauchen, lachen. Kein mondäner, aber ein ehrlicher Ort.
In der Baumwollspinnerei haben viele Galerien bereits geschlossen. Auch die Leute von Rotor-Bikes – ist doch klar, dass ein Rad-Begeisterter wie ich der Manufaktur einen Besuch abstattet – sind im Aufräum-Stress. Vor ein paar Jahren hatte ich damit geliebäugelt, mir bei den Leipzigern einen Randonneur zu bestellen und mich dann doch für ein Rad von Stevens entschieden. Ich spreche kurz mit Geschäftsführer Jonas Machalett, es geht um das Stahlrahmen-Revival und den Boom bei hochwertigen Reiserädern. Susanne hingegen hat Pech. Neo Rauch ist nicht zu Hause, seine Galerie geschlossen, neben der Tür findet sie nur das Tag: „Neo Strauch“.
Wir essen im „Fauser„, einem Restaurant, das tatsächlich nach dem Berliner Schriftsteller benannt wurde, den ich sogar noch aus den Zeit im Stadtmagazin „Tip“ kannte. Susanne isst Schupfnudeln, ich Käsespätzle. Das Bier ist gut, der Service so langsam, dass Jörg Fauser sicherlich einige Sätze Häme über ihn geschrieben hätte. Und als wir nachts ins Bett fallen, viel müder und viel früher, weil weniger erlebnishungrig als gedacht, genießen wir die enorme Ruhe. Am nächsten Morgen zeigt sich die Stadt tief verschneit, in Dämmwolle gepackt. Wir sitzen beim Frühstück, löffeln Obstsalat, stippen Croissants und staunen hinaus in die österliche Winterlandschaft.
Glück im Unglück. Und Unglück im Glück. Der Zoo ist eher mäßig besucht, das kalte Wetter schreckt die Menschen ab. Aber leider die Tiere auch. Viele Freigehege sind leer wegen des Dauerfrosts. Wir sehen schnatternde Flamingos und glückliche Pinguine, Elefanten, die sich begeistert Schnee ins Maul rüsseln, ein Orang-Utan spielt schweinebaumeln, ein Schimpanse onaniert, und eine Katze schleicht durch das Giraffengehege. Als sich eines der hoch aufragenden Tiere zeigt, fällt mir wieder der blöde Chips-Witz ein: Was verbirgt sich im Hals einer Giraffe? Der höchste Pringles-Stapel der Welt.
Wir essen im „Connstanze„, eine Kneipe in einer einstigen Fabrikhalle (daher stanze) im Immer-noch-Alternativ-Stadtteil Connewitz (deshalb Conn). Das Essen ist ordentlich, Susanne bekommt Gnocchi mit Ziegenkäse und Austernpilzen, ich Lammbraten mit Klößen. Über den Wein führen wir einen Disput mit dem Kellner. Wir sagen, der ist kaputt. Der Kellner entgegnet, die Flasche sei fast leer, niemand habe sich beklagt (Subtext: Kann man also trinken.). Wir bitten, eine neue Pulle zu entkorken. Und sind begeistert vom Duft. Der Kellner auch.
Für die Kinder im Zoo war die Katze im Giraffengehege der Held, für die Kinder auf dem historischen Ostermarkt in der Innenstadt ist es die Riesenzuckerwatte, die wie ein Weihnachtsmannbart von dünnen Holzstecken weht. Viele Markststände gaukeln uns das Mittelalter vor, verkaufen geröstetetes Knoblauchbrot, Lederwamse und Spießbraten. Musikanten spielen mit der Laute auf, und das Riesenrad wird von einem Mann in Kniebundhose und Schellenkappe gedreht, per Hand. Sitzt ein dickes Kind in einer Gondel, wird die gegenüberliegende durch ein Gewicht beschwert.
Der Mietwagen – danke für den schicken BMW – bleibt im Schnee stecken. Zum Glück fällt mir der Fußmattentrick wieder ein, und ich kann die Karre raus fahren. Für eine der Matten geht das nicht zu gut aus. Und während ich griesgrämig in die Fußgängerzone schaue, besucht Susanne den Gottesdienst in St. Nicolai. Sie ist vor Jahren bereits aus der Kirche ausgetreten. Aber Ostern berührt sie. Ebenso die aufrichtige Ergriffenheit der Gläubigen.
Am Nachmittag machen wir uns auf den Rückweg. Es ist verblüffend, wie viel wir unternommen haben, und wie wenig wir das Gefühl haben, dieser Stadt näher gekommen zu sein. Wir erlebten kaum Lebenslust, nur wenig Heiterkeit. Das lag vor allem an der Kälte. Die Menschen stapften mit hoch gezogenen Schultern über den gefrorenen Schnee. Ähnlich abweisend wirkten die Häuser, grau, verschlossen, winterstarr. Und wir waren nicht anders, kaum kommunikativ, ständig auf der Suche nach einem warmen Café. Und erst wenn man lang genug saß, wenn man die Zehen wieder spürte und die Finger wieder bewegte, konnte man auch lachen und Spaß haben mit anderen Gästen.
Der Tower des Flughafens Halle-Lepzig wird immer kleiner im Rückspiegel, und am Abend erreichen wir Hamburg. Die Hochbahn leuchtet, auf dem Dom strahlt das Riesenrad, und per Lichtstrahl verbindet der Künstler Antony McCall die Innenstadt mit dem Areal der Internationalen Bauausstellung in Wilhelmsburg. So ist Hamburg, es hat Strahlkraft, fühlt meist besser an als es ist, selbst wenn der Regen kalt niederseiht, Schleierwolken die Sonne vernebeln, und der Wind die Kälte eisig macht. Und doch hat uns Leipzig gefallen. Eine Stadt wie eine Werkstatt. Beim nächsten Mal werden wir vorher mit einigen Bloggern Kontakt aufnehmen, vielleicht haben sie Lust, uns etwas über ihre Stadt zu erzählen. Wir sind neugierig geworden. Im Sommer werden wir wieder hinfahren – in die Heldenstadt.