Pause vom Regen: in der Fischauktionshalle erhitzen The Bad Plus die durchgefrorenen Gemüter
Treffen sich die Heavy-Metal-Honks in Wacken, berichtet sogar die „Tagesschau“ über ein Dorf in Stahlgewittern. Ersaufen im dänischen Roskilde die Teenager im Sommerschlamm, zeigen die Tageszeitungen Fotos junger Frauen in Bikinis und Männer in Badehosen, die Gesichter braun verkrustet. Die Botschaft: Es ist eine Herausforderung, ein Musikfan zu sein, der ein Festival besucht. Und unterschwellig lautet die Message: Schaut euch diese verrückten jungen Leute an, was die alles auf sich nehmen, um ihre Stars zu erleben.
Dabei hat sich in letzter Zeit ein verblüffender Wandel vollzogen. Beim Hamburger Hafengeburtstag lief der Tui-Dampfer „Mein Schiff 2“ ein, und während sich das voll besetzte, immerhin 300 Meter lange Kreuzfahrtschiff langsam an Dock 10 vorbei schob, verformte sich dessen Rumpf regelrecht unter dem harten Gehämmer einer life an Bord spielenden Rock-Band. Die Headbanger machen es sich also bequem, gehen auf lärmende Luxus-Seereise – Autogramm-Stunde statt Kapitänsempfang, Gitarrensoli statt Bingo.
Wasser von oben, Wasser von unten – dazu passen nur Matjesbrötchen und Hanseatische Gelassenheit
Zwei Wochen nach dem Hafengeburtstag startet in Hamburg die nächste Party. Erneut ist das große innerstädtische Industriegebiet der Austragungsort, diesmal wurden auf Piers, in Hallen und Docks die Bühnen errichtet für das Festival „Elbjazz“. Es ist eine sehr hanseatische Veranstaltung: Angesehene Unternehmen treten als Sponsoren auf, für unbehelligten Genuss kann man exklusive Lounges buchen, einzelne Spielorte – etwa die Hauptbühne auf dem sonst nicht öffentlich zugänglichen Gelände der Blohm+Voss-Werft – erreicht man per Barkasse, und selbstverständlich treten namhafte Stars auf: Roger Cicero, Jamie Cullum, Aloe Blacc. Doch hat das Fest auch einen großen Gegner, auf dessen Garstigkeit in Hamburg für gewöhnlich Verlass ist: das Wetter. In diesem Jahr regnet es wie nie, bei Temperaturen um 8 Grad steht einem der Atem vorm Gesicht wie ein Wattebausch.
Die Discokugel auf dem Werftgelände funkelt falsche Sterne in den grauen Abendhimmel
Jazz-Fans, besonders die hanseatischen, sind bekanntlich eher arriviert, sitzen gern schick angezogen im Konzert, tragen ein hübsches Kleid, ein kariertes Jacket, und durch die rahmenlose Brille studiert man das Programm. Doch 2013 ist alles anders, in diesem Mai trägt man Outdoor-Jacken statt Burberry-Trenchcoats, Goretex statt Kaschmir, Gummi-Stiefel statt Todds-Schuhe, und das Programm kann man gar nicht lesen, wer holt schon bei strömendem Regen das iPhone mit der Elbjazz-App hervor?
Doch das norddeutsche Festival-Publikum ist hart im Nehmen. Wäre so ein Festival in einer anderen Stadt sprichwörtlich ins Wasser gefallen, bilden sich am Anleger für die Shuttle-Barkasse zur Hauptbühne auf dem Werftgelände lange Schlangen in bunten Jacken und unter großen Schirmen. Funky, während sich die Heavy-Metal-Fans im komfortablen Kreuzfahrtschiff bedröhnen lassen, zeigen die Jazz-Anhänger, dass sie die eigentlich coolen Säue sind. Der kleine November im Mai nervt, keine Frage. Aber deshalb nicht tanzen? Und zum Tanzen bietet sich noch viel Gelegenheit.
Dirk ist begeistert – über seine wasserdichte Regenjacke, den groovigen Sound von The Notwist und den mitreißenden Swing-Klezmer-House-Jazz von Caravan Palace aus Frankreich
Nachdem wir in der Fischauktionshalle das eher klassisch-moderne Trio The Bad Plus gehört haben, die druckvollen Improvisations-Jazz im Stile des legendären Esbjørn-Svenson-Trios spielen, heizt uns auf dem Werftgelände der libanesische Trompeter Ibrahim Maalauf mit seiner Band ein, seine Musik ist ein Mix aus arabischen, südamerikanischen und westlichen Klängen. Und nur ein Vorgeschmack darauf, dass bei diesem Festival alle Grenzen des Genres eingerissen werden. Später faszinieren The Notwist mit Indie-Songs, die verspielt und leicht anfangen, und dann einen bemerkenswerten Groove aufbauen. Das Publikum wiegt sich im Rhythmus, hüpft, springt. Und dreht total durch als die französische Band Caravan Palace mit einer wüsten Klang-Mixtur aus Swing, Klezmer, Django-Reinhardt und House-Grooves alle mit reißen. So sehr, dass uns die coole Professionalität von Aloe Blacc fast langweilt. Und doch: Noch nie war ein Jazz-Festival so tanzbar.
Präzise, grollend, beeindruckend – Get the Blessing passten perfekt in die Maschinenhalle
Zum Abschluss holen wir uns noch eine ordentliche Dröhnung Schwere gespart mit unbändiger Spielfreude. Im Quartett Get the Blessing sorgen ein Schlagzeuger und ein Bassist von Portishead für Antrieb, dumpf, hart, schnell, mit enormer Präzision. Darüber flirren Trompete- und Saxophon-Soli, es entsteht ein Musik-Stil, der Postjazz genannt wird und manchmal gar an den Jazzpunk von Pigbag erinnert. Was ein Abschluss für einen großartigen Konzerttag.
Durch den nur noch nieseligen Regen gehen wir gegen 2 Uhr morgens nach Hause. Erschöpft, aber glücklich. Im Alten Elbtunnel hallen die Sohlen unserer Wanderstiefel. Wir kamen uns schon irgendwie blöd vor als wir uns anzogen wie für eine Trekking-Tour in Kanada. Doch es war richtig. Wer in Hamburg Tickets für ein Open-Air-Festival kauft, muss gut ausgerüstet sein, wasserdichte Schuhe, Regenhose und -jacke sind Pflicht. Aber für Elbjazz lohnt es sich. Und norddeutsche Musikfans sind ohnehin die härtesten.