Suchende in Kanadas Wäldern: Der Camper hofft auf Einsamkeit, das Reh auf Futter
Back-Country-Experience nennt man in Kanada alle Abenteuer in Wäldern und Bergen, abseits von Ortschaften, Straßen oder sonstigen „Front-Country“-Einrichtungen. Das Back-Country-Erlebnis unserer Auszeit in Kanada wird ein mehrtägiger Aufenthalt in der Fryatt-Hut. Es ist der erste Meilenstein unseres Sabbaticals, absolute Abgeschiedenheit, kein Handy-Netz, kein Internet, kein Mensch. Die Hütte werden wir über einen fast 24 Kilometer langen Trail entlang des Attabasca-Rivers und durch das Fryatt Valley erreichen, es geht durch eines der riesigen Waldgebiete der Rocky Mountains, 24 Kilometer Einsamkeit. Rund 800 Höhenmeter sind dabei zu bewältigen, knapp die Hälfte davon stecken in einem letzten, kurzen, knackigen Anstieg. Die Hütte liegt auf 2000 Metern Höhe.
Um uns auf Wanderung und Aufenthalt vorzubereiten, übernachten wir auf einem Zeltplatz im Waterton-Lakes-Nationalpark. Der Crandell-Campground ist irgendwie beides – Front-Country, weil über eine Schotterstraße erreichbar, Back-Country, weil hinter den Bäumen tatsächlich die Wildnis beginnt. Und wie fließend manchmal die Übergänge sind, erfahren wir schon bei unserer Ankunft: An der Rezeption informiert uns Kathy, dass ein Bär in der Gegend gesehen wurde, undzwar auf dem Campground. Ein Puma auch. Und Rehe und Hirsche würden auf dem Campingplatz ebenfalls nach Futter suchen. Derart eingeschüchtert machen wir uns daran, unser kleines Zelt aufzubauen.
Camping zwischen Bäumen und Schauern: Zeltaufbau im Trockenen, Frühstück im Regen
Ein lichter Pinienwald umgeben von bis zu 2500 Meter hohen Bergen. Durch die Äste sehen wir in den wolkenverhangenen Himmel. Es wird bald regnen. Die Luft riecht feucht und würzig. Die Parzellen des Campgrounds sind mehr oder minder alle gleich: Es gibt einen Stellplatz für das Auto (Kanada ist wie die USA, man hat das Auto immer dabei), eine Stellfläche für Zelt oder Camper, einen Essplatz mit aus grobem Holz gezimmerter Tisch-Bank-Kombination und eine Feuerstelle. Kaum steht unser Zelt, kommt Park-Ranger Locke Marshall vorbei, um uns zu begrüßen und uns die Camp-Etiquette zu erklären. Und weil es zu regnen beginnt, sprechen wir im überdachten Gemeinschaftsraum weiter.
Wir: „Ist es gefährlich, hier zu campen?“
Locke Marshall: „Eigentlich nicht. Aber ihr müsst euch an Regeln halten: Tiere nie füttern! Das ist in allen Parks verboten. Kein Essen im Zelt lagern! Lebensmittel im Auto aufbewahren oder im Food-Locker, einem Stahlschrank mit einem für Bärenpfoten ungeeigneten Öffnungsmechanismus. Keine Essensreste auf dem Tisch liegen lassen! Nach dem Essen immer aufräumen. Müll sofort weg bringen! Auch die Mülltonnen sind aus Stahl und wildlife-safe.“
„Anders als die Mülltonnen ist unser Zelt nicht aus Stahl. Kann der Bär nicht einfach vorbei kommen und sich nachts einen Snack holen, etwa Susanne oder eines der Kinder der nebenan campenden Familie?“
„Das wäre sehr sehr ungewöhnlich. Menschen stehen nicht auf dem Speisezettel der Bären. Wenn die nichts interessantes riechen, kommen sie nicht näher. Fast alle Vorfälle sind auf das Fehlverhalten von Menschen zurück zu führen: Besucher, die einen Bären füttern oder ein Bärenjunges auf den Arm nehmen wollen, die aus dem Auto steigen, um für ein besseres Foto näher an einen fressenden Bären heranzukommen.“
„Was tun, wenn man einem Tier begegnet?“
„Ruhe bewahren. Nicht provozieren. Langsam zurück weichen und dabei mit ruhiger Stimme reden, um zu zeigen, dass ihr Menschen seid. Notfalls den Weg frei geben, denn die Tiere sind auch faul, sie mögen sich nicht immer durch den Wald wühlen sondern gehen lieber auf Wanderwegen.“
„Einige Reiseführer empfehlen, sich mit Bärenspray und Bärenglöckchen auszurüsten. Guter Rat?“
„Das Spray ist sicherlich eine gute Idee für Notfälle, man wendet es aber erst an, wenn ein Bär angreift, was sehr selten ist. Glöckchen bringen nichts. Man hat festgestellt, dass die Tiere den Ton viel zu spät hören.“
„Was müssen wir am meisten fürchten: Puma oder Bär?“
„Um ehrlich zu sein: die Rehe. Die bereiten uns viele Probleme. Manche Besucher füttern die Tiere, wollen die dann mehr Fressen haben, knuffen und boxen sie, dabei kann es zu Verletzungen kommen.“
Unser größtes Problem aber ist das Wetter. In der Nacht beginnt es heftig zu regnen, die Temperaturen sinken (das Thermometer des Mietwagens zeigt 2 Grad!), selbst im Schlafsack ist es gerade warm genug. Und doch bauen wir unser Frühstück draußen auf, hocken dick eingepackt und in Regenklamotten vor unseren Müslischalen, trinken Instantkaffee, und obwohl wir lieber schönes Wetter hätten, finden wir diesen ersten Tag hier draußen auch toll. Statt eines Bären kommt zum Frühstück ein Eichhörnchen zu Besuch.
Wanderer und Wildlife: Begegnung mit einem ziemlich unerschrockenen Hirschen
Wir verbringen die Tage mit Wanderungen und Rundfahrten. Wir fotografieren die Bären, die in den Sträuchern am Straßenrand mit solcher Hingabe Beeren fressen, dass sie gar nicht mitkriegen, welche Bear-Jams sie auslösen (so heißen hier die Staus, die entstehen, wenn die Autofahrer anhalten, um die Tiere zu fotografieren). Wir wandern durch die Wälder, vorbei an Wasserfällen, zu Aussichtspunkten mit Blick auf die Seen im Park. Und wir begegnen auf einer dieser Wanderungen einem kapitalen Hirschen, der plötzlich vor uns auf dem Weg steht, vielleicht zehn Meter entfernt. Wir rufen, klatschen in die Hände. Doch statt das Tier damit zu verscheuchen, dreht es sich um und kommt langsam auf uns zu. Immer näher. Bleibt kurz stehen. Was ein Moment. Und geht schließlich an uns vorbei. Eine Armlänge trennt uns, die wir ein wenig zur Seite getreten sind, von dem großen Hirsch. Aus runden, tiefdunklen Augen sieht er uns ruhig an und schreitet davon.
Nach mehreren Tagen machen wir uns über Kananaskis County, wo wir in der Delta Lodge übernachten, auf nach Kenmore. Da hat der Alpine Club of Canada seinen Sitz. Mit Keith Haberl sprechen wir über die bevorstehende Wanderung zur Fryatt Hut. Auch er hat noch etwas zum Thema Bären zu sagen, dass er in all den Jahren, seit denen er outdoor ist, kaum eine Bären-Begegnung hatte. Es genüge, aufmerksam zu sein, keinen Blödsinn zu machen. Und er empfiehlt uns, die besondere Landschaft rund um die Hütte zu erkunden. „Verlasst ruhig die Wanderweg, denn es ist eines der schönsten Täler der Rockies.“
Roadmovie in XXL: der Icefields Parkway, vom Parkplatz aus filmt man die Gletscher
Über den Icefields-Parkway fahren wir nach Jasper. Die zweispurige Straße führt über mehrere hundert Kilometer durch eine enorme Bergwelt, mehr als 3000 Meter hoch ist mancher Gipfel, viele Felsscharten sind dick bepackt mit Gletschereis. Auf den Parkplätzen stauen sich Mietwagen, Camper und Busse, die Klick-, Klingel- und Klamauktöne der auslösenden Kameras sind so laut wie das Rauschen der Berge.
In einem Hotel in Jasper stellen wir die Ausrüstung zusammen und packen die Rucksäcke für unsere Trekking-Tour. Auch eine Dose Bärenspray haben wir gekauft. Das hoch konzentrierte Kampfgas sprüht acht Sekunden bis zu fünf Meter weit, angeblich erhöht es die Chancen bei einem Angriff um mehr als 500 Prozent. Wir freuen uns dennoch auf die Tour. Auch wenn uns ein wenig mulmig zumute ist. Wenn diese kleine Beklommenheit nicht wäre, hätten wir auf der von 0 bis 10 reichenden Entschleunigungsskala bestimmt schon Stufe 3,5 erreicht. Morgen früh beginnt unsere Reise in die Einsamkeit.
Wegweiser in die Abgeschiedenheit: Steinmanderl – in Kanada „cairns“ genannt – markieren den Trek ins Hinterland. Unser Backcountry-Experience führt ins Fryatt Valley, einem entlegenen Tal im Jasper Nationalpark
Mit Unterstützung von: Travel Alberta