Eiswolke und Abendglut: Eine Erinnerung an unsere Antarktis-Reise ist diese Spiegelung im Südpolarmeer. Hinter den Fenstern des Hotels in Santiago de Chile geht die Sonne unter – es ist etwa 30 Grad warm
Ein Reisebericht von Susanne Baade und Dirk Lehmann
Ein schwerer Lastwagen? Ein Zug? Das Brummen und Dröhnen und Rütteln jedenfalls ist so deutlich spürbar, dass ich im Bett aufschrecke. Susanne schläft noch. Ich gehe an das große Panoramafenster. Doch kann nichts besonderes erkennen. Inzwischen hat die Vibration wieder aufgehört. Unten staut sich der Berufsverkehr. Und selbst wenn dort ein besonders lauter Lkw gefahren wäre, würde ich ihn hier oben in der 18. Etage überhaupt hören?
Habe ich mich gefreut auf die erste Nacht in einem fest stehenden Bett. Nicht dass ich auf der Bremen schlecht geschlafen hätte. Im Gegenteil. Aber bei stärkerem Seegang war es nicht immer leicht, eine richtige Schlafposition zu finden. Irgendwie muss man uns diese Sehnsucht angesehen haben. Jedenfalls hat uns das Team des Grand Hyatt in Santiago ein Zimmer mit einem Kingsize-Bett gegeben. Ach, Quatsch. Es ist gar kein Zimmer, es ist eine Wohnung, ein Palast. Und wir, die wir in den letzten Wochen in einer 18 Quadratmeter-Kabine gelebt haben, fühlten uns anfangs fast ein wenig verloren in dem weiten Raum mit dem Zwei-Meter-Bett, dem Ein-Meter-Flachfernseher und der Fünf-Meter-Fensterfront durch die der Blick über den Nordosten der chilenischen Metropole geht, bis er an den Ausläufern der Anden hängen bleibt. Am ersten Abend haben wir das Hotel gar nicht verlassen und nur gewohnt. Hinausgeschaut. Die Füße in das Holzparkett gestemmt, das sich nicht bewegte. Uns auf das große Sofa fallen lassen. Eine Flasche Wein geöffnet, ohne auf den Preis geachtet zu haben (und uns fest vorgenommen, dass es egal ist).
Hotel Panorama: Blick aus unserem Zimmer im „Grand Hyatt“ auf Santiago de Chile. Frühstücksservice mit Haube im Club (sehr gute Croissants!). Das Atrium mit dem verschwindend kleinen 20-Meter-Weihnachtsbaum. Die Galerien, von denen die Zimmer abgehen
Von Ushuaia über Buenos Aires sind wir nach Santiago de Chile geflogen. Ein paar Tage wollen wir uns hier wieder an festen Boden unter den Füßen gewöhnen, bis es weiter geht zur letzten Etappe unseres Sabbaticals (ja, Wahnsinn!, es ist schon so weit): nach Australien. Und plötzlich das seltsame Gerüttel. Das leise Scheppern und Rumoren. Später erfahren wir, dass ein Erdbeben mit einer Stärke von 4,6 vor der Küste gemessen wurde. Die Erschütterungen habe man deutlich spüren können in der rund 100 Kilometer vom Epizentrum entfernt gelegenen Großstadt. Für mich eine gute Nachricht. Kurzfristig befürchtete ich, am gestrigen Abend zu viel Wein getrunken zu haben.
Zum Hotel gehört ein riesiger Pool. Mit Wasserfall, umgeben von blühenden Hortensien und glänzendem Rododendron, liegt das nierenförmige Becken wie eine Dschungellagune im Garten. Wir schwimmen eine Runde und machen uns auf den Weg zum Frühstück. Das Hyatt ist architektonisch keine Schönheit, mit seinem zylindrischen Baukörper über dem sich eine kleine spitze Kuppel erhebt, sieht das Haus aus wie ein Projektil. Aber es ist ein bemerkenswertes Gebäude, über der Rezeption öffnet sich ein atemberaubend luftiges Atrium, gläserne Aufzüge fahren vorbei am riesigen, etwa 20 Meter hohen Weihnachtsbaum bis in die 19. Etage, von oben sieht die bunt geschmückte Plastiktanne winzig aus.
Wir frühstücken im Club. Der zweigeschossige Raum liegt zwischen 16. und 17. Etage, hinter den großen Panoramascheiben erheben sich in der Ferne die verschneiten Gipfel der Anden. Und obwohl wir in den letzten Tagen wahrlich genug Eis gesehen haben, ist der Anblick gigantisch. Ein perfekter Ort für ein Resümee unserer Kreuzfahrt in die Antarktis.
Nachschlag: Wer kann schon Nein sagen, wenn das siebengängige Abendmenü mit einem frischen Lachstartar startet? Oder wenn diese leckere Marzipantorte zum 19. Geburtstag der „Bremen“ als Dessert serviert wird? Die Folge: drei Kilo mehr. Schuld sind die da – das Küchenteam empfängt die Ovationen der Gäste
Doch worüber wollen wir überhaupt sprechen? Denn eigentlich sind wir uns einig: Wir hatten diese Reise als „once-in-a-lifetime“-Erlebnis geplant. Und unsere Zeit auf der Bremen hat alle Erwartungen erfüllt. Sogar übererfüllt. Dass die Antarktis eine Landschaft ohne Vergleich sein würde, damit haben wir gerechnet (nicht aber damit, dass sie uns auch so berühren würde). Doch gibt es da noch die typischen Unwägbarkeiten einer Schiffsreise: Wetter, Seegang, Essen, die anderen Passagiere. Mit dem Wetter hatten wir Glück, meist war es schön bis sehr schön, und sogar „unser“ Sturm blieb dank vorausschauender Navigation ein verhältnismäßig harmloser. Das Essen war meist grandios. Okay, als Vegetarierin war Susanne in jeglicher Hinsicht Vertreterin einer Minderheit, und als Tierfreundin waren für sie die Tage, an denen zum Mittagessen ein ganzes Spanferkel oder ein Lamm im Restaurant aufgebaut worden waren, sicherlich eine Herausforderung. Ich hätte mir mehr leichte Küche gewünscht, denn selbstverständlich mache ich das Küchenteam dafür verantwortlich, dass ich mehr als drei Kilogramm zugenommen habe.
Maskerade in der Antarktis: Auf Deck vermummt man sich gegen die Eiseskälte und ist doch ganz kommunikativ, bei einem der Bordfeste werden Pinguine geherzt, andere kommen sich bei einem Glas Champagner näher
Die wahre Überraschung waren die anderen Reisenden. Wir hatten befürchtet, die jüngsten an Bord der Bremen zu sein. Doch den Job hat ein Paar aus der Eiffel übernommen, die Fahrt in die Antarktis war ihre Hochzeitsreise. Auch in anderen Disziplinen wurden wir übertrumpft: Mit dem besten Reisekonzept war ein Paar unterwegs, das auf diesem Schiff – da hieß die Bremen noch „Frontier Spirit“ – seine Hochzeitsreise unternahm, und sich jetzt den Jubiläumstrip gönnt, 20 Jahre danach. Die längste Reise machen zwei andere Sabbatees, für die die Kreuzfahrt auf der Bremen quasi die Ouvertüre ist zu einer mehrmonatigen Tour durch die Südsee, insgesamt ein Jahr sind sie unterwegs. Auf die extremste Reise begibt sich unsere Tisch-Nachbarin Silke, die nach der Kreuzfahrt erst ein einsames Trekking in Chile unternimmt und dann eines im Himalaya Nepals. Der unterhaltsamste Reisende war ein Professor aus Halle, der mit seinem klugen Humor bis in den späten Abend fesseln konnte – und dann zum Tanzen aufforderte. Und die exzentrischsten Reisenden waren zwei britische Birdwatcher, die mit mehreren Foto- und Videokameras von früh morgens bis spät abends ihrer selbstgewählten Aufgabe nachgingen – und 80 Speicherkarten mit jeweils 16 Gigabyte füllten; in Bildmaterial umgerechnet: rund 500.000 Fotos.
Goldstück: Die Mitternachtssonne spielt mit den Bergen im Lemaire-Kanal
Wenn wir ein Haar in der Suppe finden müssten, dann wie deutsch die Bremen ist. So sagte Kapitän Behrend zu Beginn der Reise zwar, man solle die Uhren ablegen und die Fahrt einfach genießen. Doch dann begann jede Veranstaltung, jeder Vortrag, jede Zodiacfahrt mit einer Pünktlichkeit, der man ohne Präzisionszeitmesser gar nicht gerecht werden konnte. Und als wir uns einmal (EINMAL!) bei einem Landgang um eine (EINE!) Minute verspäteten, hat der Expeditionsleiter schon nach uns suchen lassen. Jetzt, da wir im Hyatt beim Frühstück sitzen und Croissants in den Kaffee tupfen, die so locker und luftig und doch so buttrig gebacken sind, dass man sie als Anschauungsmaterial zur Ausbildung des Patissier-Nachwuchses nach Paris schicken könnte, müssen wir noch immer lächeln über die Situation. Und über die augenzwinkernde Ernsthaftigkeit, mit der Stefan Kredel darauf hinwies, dass wir uns nicht um eine Minute verspätet hätten, sondern um eine Minute und 28 Sekunden.
Gute Unterhaltung auf der Bremen: Kapitän Mark Behrend hat auch Entertainer-Qualitäten, hält Ansprachen und singt sogar. Pianist Alejandro Graziani spielt selbst bei Sturm, und Susanne zeigt mit den „Vorsicht-Rutschgefahr“-Schildern, was an Deck passieren kann
Schon nach dem Frühstück, kurz nachdem wir das Hotel verlassen haben, beginnen wir diese Organisiertheite, diese Zuverlässigkeit und Ordnung zu vermissen. Für heute haben wir uns ein Rad geliehen, ein großes grünes Tandem vom Radverleiher Bicicleta Verde. Santiago ist ähnlich und doch anders als Buenos Aires. Es ist weniger stylish, man ist hier nicht so herausgeputzt. Weniger bedrohlich: Zwar gibt es auch überall Zäune und Stahltore und fette Schlösser, doch hält man hier Kamera und Smartphone in der Hand und verbirgt es nicht in einer Plastiktüte. Architektonisch erinnert Santiago an eine Mischung aus Bukarest und Ost-Berlin, riesige, eher uncharmante Gebäude, vor einigen wehen die größten Flaggen, die ich je gesehen habe. Selbstverständlich die chilenische Nationalfahne.
Reiter im Stadtzentrum: Polizisten auf Pferden patrouillieren in Santiago
Wir radeln durch einen Park, in dem unzählige Paare liegen und mindestens knutschen (offenbar haben die jungen Leute dafür keinen anderen Platz). Wir halten an einem Brunnen in der Innenstadt, in dem plötzlich eine Frau mit ihren Kindern ein Bad nimmt. Wir sitzen im besten Eiskaffee der Stadt, trinken später ein teures Bier und essen schließlich in einem Restaurant das chilenische Nationalgericht Ceviche: rohen, nur leicht marinierten Fisch – ein recht rustikales Sushi. Und wir freuen uns, als wir endlich wieder im Hotel sind.
Grüne Stadtrundfahrt: Wir haben bei „Bicicleta Verde“ ein Tandem gemietet. An diesem heißen Tag badet eine Frau in einem der Brunnen Santiagos. Das Eiscafé „Emporio Rosa“ ist beliebt auch bei den jungen Stylern der Stadt, einige werden sogar beim Sprayen gefilmt
Um 12 Uhr holt uns das Taxi ab, wir fahren zum Flughafen. 14 Stunden dauert der Flug nach Adelaide, mehr als einen halben Tag Zeitverschiebung werden wir haben. Und in einer völlig anderen Welt ankommen. Zuerst wollen wir uns in einem Weingut im Barossa-Valley erholen, dann werden wir uns aufmachen in die Natur von Kangaroo Island und mitten hinein in die Wildnis des heißesten Kontinents der Erde.
Nach der Reise ist vor der Reise: In Santiago besteigen wir den Quantas-Jumbo nach Australien