Ziel unserer ersten Exkursion im Fryatt Valley: Gletschersee am Fuß des Mount Olympus
Es schien mir eine gute Idee, unsere Wanderschuhe draußen auszulüften. Wir hatten sie in die Morgensonne gestellt und saßen in der Hütte beim Frühstück, als wir plötzlich ein seltsames Rumpeln hören. Ohne dass sich das Geräusch zuordnen lässt. Wir sehen hinaus. Niemand da. Es ist kurz nach 10 Uhr morgens, für Besuch aus dem unteren Tal noch zu früh, rund zwei Stunden sollte der Anstieg vom Campground wohl dauern, vor 8 Uhr war es eigentlich zu dunkel draußen. Zudem ist es unmöglich, ins obere Tal zu gelangen, ohne an der Hütte vorbei zu gehen. Wir haben niemanden gesehen. Wir setzen uns wieder hin. Erneut ein Schleifen und Rutschen. Diesmal lauter, näher.
Susanne steht der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Ich nehme all meinen Mut zusammen und beschließe nachzusehen, stecke mir das Bärenspray in die Hosentasche und greife nach einer der Äxte im Vorraum. Öffne die Tür. Sehe nach links. Nach rechts. Nichts. Mache ein paar vorsichtige Schritte hinter die Hütte. Nichts. Schleiche nach vorn. Nichts. Bis ich sah, dass einer meiner Wanderstiefel verschwunden ist.
Schuhständer: Nachdem ein Erdhörnchen versucht hat, einen Wanderstiefel in seine Höhle zu zerren, trocken wir die Schuhe auf dem Dach. Das Murmeltier wartet auf die nächste Gelegenheit
Einige Horror-Film-Szenarios geistern mir durch den Kopf, von unerschrockenen Menschen, die einem Geräusch nach gehen und nie mehr wieder kommen. Ist das eine Falle? Ich gehe ein Stück auf das Wäldchen zu, die Axt fest in der Hand. Nichts zu sehen. Zurück zur Hütte, um Susanne zu erzählen, was geschehen ist, um mit ihr die Frage zu erörtern, was Bären wohl mit Wanderschuhen machen (hängen sie die für ihre Trophäensammlung in der Höhle auf?), und wie ich die 24 Kilometer zurück mit nur einem Schuh trekken kann? Wieder ein lautes Rumpeln, diesmal von der Vorderseite der Hütte. Ich sprinte hinaus, laufe um die Ecke und muss lachend stehen bleiben – ein Erdhörnchen versucht, meine Wanderstiefel in seinen Bau zu ziehen. Doch: keine Chance bei Schuhgröße 48. Der Schuh hat sich im Eingang zu seinem Bau verkantet. Ich trage ihn zurück
Verrückte Wildnis. Das eine Tier will zu uns in die Hütte, das andere klaut mir einen Schuh. Und die nächsten wollen nichts anderes als unser Blut. Mit dem letzten Schluck Kaffee setzen wir uns vor die Hütte. Leider müssen wir nach ein paar Minuten zurück in die Hütte, denn kaum sind wir draußen attackieren uns die Mücken in Schwärmen. Ständig greifen zudem Horseflies an, Insekten groß wie Wespen, schwarz wie Stubenfliegen, die nicht nur stechen, sondern einem geradezu ein Stück Fleisch aus der Haut beißen. Die Bisswunden schwellen an zu blutigen Kratern. Wir sitzen in der Hütte, schauen durch die Fenster auf die Wildnis, in der wir so gern einsam gewesen wären. Wie unmöglich das ist, zeigt dieses kleine absolut gar nicht übertriebene Video.
Die Sonne scheint, und wir liegen dösend in der Hütte als es an der Tür klopft. Ryan und Martin haben sich aufgemacht, das obere Tal zu erkunden und fragen uns, ob wir sie begleiten wollen. Wir wandern, ordentlich mit Autan eingesprüht, den Fryatt Creek hinauf. Es geht durch sumpfige Wiesen und über sprudelnde Wasserläufe. Wir erreichen ein Höhlensystem, durch das der Fluss unterirdisch fließt, hinter einem Wasserfall hat er sich über die Jahrhunderte durch den Fels gegraben. Schließlich stehen wir an einem türkis leuchtenden Gletschersee am Fuß des höchsten Berges des oberen Fryatt Valleys, fast 3000 Meter misst der Mount Olympus, er überragt das Tal um fast 1000 Meter.
Klettertour über die Felsen, die der Gletscher wie Murmeln in das Tal gewälzt hat. Ryan und Martin interessieren sich für das Höhlensystem, durch das der Fryatt Creek fließt. Beim Anstieg bietet sich die Gelegenheit zu einer sommerlichen Schneeballschlacht
Fast fünf Stunden dauert unsere Exkursion. Zurück an der Hütte verabschieden wir uns von den beiden. Sie wandern morgen schon wieder zurück. Wir aber werden noch ein paar Tage bleiben in der Abgeschiedenheit des Tals. Über das Alleinsein nachdenken. Uns die Frage beantworten müssen, ob wir hier finden, was wir in der Einsamkeit suchen. Zuerst aber machen wir uns ein Raumfahrer-Essen. Heute gibt es Tagliatelle in Käsesahnesauce.
Auf der von 1 bis 10 reichenden Skala der Entschleunigung sind wir inzwischen bei 4 angekommen.
Nicht nur Bären sind gefährlich, viele Wanderer verschwinden auf ungeklärte Weise…