Ein Mann und seine Opfergabe: Im Tempel Dakshinkali werden der Göttin Kali nicht nur Tiere geweiht, man bringt auch Räucherstäbchen, Blumen und Kokosnüsse
Ein Reisebericht von Susanne Baade und Dirk Lehmann
Blut, der ganze Boden ist voll Blut. Und bis auf uns Ungläubige, trägt hier niemand Schuhe. Mit nackten Füßen stapfen die Menschen durch Pfützen und Lachen von Blut, und sorgen dafür, dass der graue Stein im Tempel Dakshinkali noch roter wird, indem sie enthauptete Hähne oder abgeschlagene Ziegenköpfe hinter sich her zerren und kurz auf einer Stufe ablegen. Es ist ein irritierender Anblick, wie sich das Maul öffnet und wieder schließt und noch einmal öffnet. Die letzten Momente im Leben eines Tieres, das stirbt, um eine blutrünstige Göttin mild zu stimmen.
Der Tempel ist Kali geweiht, der Gattin Shivas. Und wie bei so vielen Göttern im Hinduismus, stellt Kali nur einen von vier Charakteren der Göttin dar, sie ist die Zerstörerin. Damit nimmt sie eine wichtige Rolle in dieser Religion, in der neues nur entstehen kann, wenn das alte zerschlagen wurde. Einst soll man Kali auch Menschenopfer gebracht haben, heute sterben vor allem (männliche) Tiere. Je wohlhabender der um Beschwichtigung bittende, desto größer das Tier. Die Armen bringen Kokosnüsse, die im Tempel aufgeschlagen werden, Blumen, mit denen die Statuen der Göttin verziert werden, Räucherstäbchen, die nie einzeln sondern in ganzen Bündeln abgefackelt werden. Ihr süßlich-strenger Geruch vermischt sich mit dem des Blutes. Dazu die Musik aus den Lautsprechern, unterbrochen von Anweisungen und Warnungen, auch auf Englisch: „Attention! Thievepockets!“
Warten auf Einlass: Dieser treue Begleiter weiß nicht, dass dies seine letzte Reise ist
Wir sind zurück aus dem Himalaya. Der Weg bis Lukla führte anfangs über aussichtsreiche Panoramawege und später über denselben Himalaya-Highway, den wir auch auf dem Hinweg genommen haben. Und selbst der Flug verlief ohne besondere Vorkommnisse. Bis zu den Moment, in dem wir vom Airport in eine Stadt fahren, die nicht dieselbe zu sein scheint, die wir verlassen haben. Weniger Verkehr, weniger Menschen, als hätte Kathmandu einen Exodus erlebt. Und genau das ist auch passiert: Das wichtigste hinduistische Fest des Jahres – Dashain – hat begonnen. 15 Tage lang wird die Göttin Durga, die Quelle alles Lebens gefeiert. Die Stadt nimmt eine Auszeit von ihren Bewohnern. Die feiern in der Heimat, Häuser und Dörfer werden geschmückt, Familien kommen zusammen, man tanzt auf den Straßen.
Ein Land in Farbe: Während des Dashain-Festes feiern die Hindus in Nepal ihre Götter, die mit Traktoren durch die Dörfern gefahren werden, und bestäuben sich mit Pigmenten
Ab dem achten Tag bringen die Gläubigen ihre Opfergaben in die Tempel des Landes. Als erstes beschließen wir, den in einer Talsenke bei Kathmandu gelegenen Dakshinkali zu besuchen. Der Weg vom Parkplatz zum Heiligtum wird gesäumt von Ständen, an denen Händler Gebetsketten und Blumensträuße verkaufen, Kokosnüsse und Räucherstäbchen, Hähne und Ziegenböcke – quasi als Last-Minute-Opfer. Es ist heiß, die Luft steht, und die Gläubigen reihen sich geduldig in eine mehrere hunderte Meter lange Schlange ein. Es wird dauern, bis sie ins Innere des Tempels vordringen.
Kerzen brennen, Räucherstäbchen schwelen, im Zentrum des Tempels Dakshinkali werden den Opfertieren die Kehle durchtrennt. Es ist Akkordarbeit, heute sind es etwa 500 Ziegenböcke
Die Anlage selbst ist kaum zu überblicken, so viele Menschen, so viel Rauch, so viel Blut. Im Akkord schneiden zwei kräftige Männer den Tieren die Kehlen durch. Mit dem Blut wird eine Kali-Statue bespritzt. Während der Kopf des Tiere im Tempel bleibt, wird der Rest hier ausgenommen, abgekocht und abgezogen, die Gläubigen nehmen es mit für den Festschmaus zu Hause. Auch deshalb kann man den Eindruck haben, in einem gewaltigen Schlachthof zu sein. Wären da nicht der Rauch, das Fackeln der Kerzen, die Betenden, die verzückt zum Himmel blicken.
Warten für eine Audienz im Heiligtum: Gläubige mit ihren Opfergaben
Für uns ist der Tempel nicht leicht zu ertragen. Susanne, der Vegetarierin, fällt schon der Anblick der an den Füßen gehaltenen Hähne und der treu neben ihren Besitzern in der Warteschlange stehenden Ziegenböcke nicht leicht. Und ich sehe die Ärmsten der Armen im Wasser eines Baches stehen, der an der Anlage vorbei fließt und gefärbt ist vom vielen Blut, und sehe wie sie die noch verwertbaren Fleischreste herausklauben. Selbst als uns einer der Priester ein Tilaka auf die Stirn malt und ein Band ums Handgelenk bindet, und als er uns erklärt, was hier passiert, will das Unbehagen nicht weichen.
Segnung und Erklärung: Ein Priester malt uns eine Tilaka auf die Stirn und gibt uns dabei eine kurze Einführung in diesen Ort, dass die Menschen hier Opfer bringen – um die Göttin Kali zu besänftigen
Wir setzen unsere Reise an spirituelle Orte Nepals fort mit dem besten Auto, das man sich für so eine Fahrt vorstellen kann – mit einem schwarzen Mercedes 230. Es ist ein Modell der so genannten Baureihe 123, wie sie von 1975 bis 1986 hergestellt wurde. Das Auto ist älter als Mr. Bulla, sein Fahrer. Die Limousine hat sehr komfortable Sitze, vier elektrische Fensterheber und mehr als eine Million Kilometer auf dem Tacho.
Auch Autos erhalten während der Durga eine Segnung. Das scheint zu wirken: Dieser Mercedes 230 aus den 1980er Jahren hat mehr als eine Million Kilometer auf dem Tacho
Während des Fests werden auch Autos gesegnet, und bevor wir weiter fahren erhält „unser“ Mercedes eine Zeremonie mit Räucherstäbchen, Blüten, Bändern und Obst (ein Apfel wird auf den Motor gelegt), und dann geht es los. Wir holen Achim ab. Joachim Chwaszcza arbeitet für den DAV-Summit-Club, er ist Nepal-Experte, Buchautor und Reiseleiter mit Leidenschaft. Und wir begleiten ihn in den nächsten Tagen. Zuerst geht es an einen düsteren Ort – nach Pashupatinath.
Nekropole in der Großstadt: Pashupatinath ist Tempelanlage und für die Hindus die wichtigste Bestattungsstätte im Kathmandu-Tal
Auch die große Tempelanlage im Osten Kathmandus ist Shiva gewidmet, hier aber wird sie als Göttin des Lebens verehrt. Der innere Bereich des Tempels ist für Nicht-Hindus nicht zugänglich, die darin stehende Shiva-Statue darf nur von Priestern aus dem Süden Indiens berührt werden. In den Gebäuden rund um den Tempel leben Sadu, Frauen und Männer, die sich ganz der Askese hingeben, und Lebensmüde, die glauben, dass sie bald sterben. Und auf ihren letzten Ruheplatz warten – eine der Verbrennungsstätten am Fluss Bagmati.
Ein Ort für Weise und Sterbende: Nepal-Experte Achim erklärt wie dieser Tempel funktionert und hat eine Spende für die Sadu-Frauen. Krankenwagen bringen die Toten direkt vom Hospital zu den Verbrennungsstätten am Fluss-Ufer
Wir beobachten eine der Zeremonien. Wie die Familie mit der Toten auf einer Bahre zum Fluss kommt. Frauen weinen, Männer waschen die Füße der Leiche. Blumen und Kleider werden ins Wasser geworfen (wenige Meter flussabwärts fischen Kinder sie wieder hinaus), und dann bahren sie die Tote auf einem Scheiterhaufen auf. Sie legen feuchtes Stroh auf den Körpfer und zünden das Holz an. Rauchschwaden ziehen über die Anlage, es ist ruhig, fast still. Nur das Knistern der Flammen. Auf der anderen Flussseite haben sich ein paar Zuschauer versammelt. Pashupatinath ist kein gruseliger Ort. Es ist eine Stadt der Toten, ihnen wird hier die letzte Ehre erwiesen. Mit großer Selbstverständlichkeit. Und jeder darf dabei sein.
Momente des Abschieds: Die Tote wird auf einer Bahre gebracht, die Verwandten weinen, waschen ihr die Füße, werfen Blumen und Kleider in den Fluss, die von den Jungs links wieder herausgefischt werden. Dann verbrennt man ihre Leiche und verteilt später die Asche über das Wasser
Leben und Tod, Liebe und Trauer. Zuschauer sind eine Selbstverständlichkeit in dieser Nekropole. Das Lingam ist Symbol der Fruchtbarkeit – Penis und Vagina in einem. Und ständig liegt Rauch über der Stadt der Toten
Unser nächstes Ziel ist der Tempel von Manakamana, er gilt als einer der wichtigsten für die Hindus in Nepal: Einmal im Jahr kommen die Gläubigen hierher und bringen ein Opfer für die Göttin, die Wünsche erfüllt. Es ist eine beschwerliche Reise. 105 Kilometer Highway in Nepal fühlen sich an wie 500 Kilometer Forstweg in Deutschland. Mehr als fünf Stunden sind wir unterwegs. Der Mercedes rollt und stampft über die von Schlaglöchern zermürbte Straße.
Die Legende von Manakamana ist die einer komplizierten Dreiecksbeziehung: Nur ihr Geliebter darf wissen, dass Manakamana eine Göttin ist. Als ihr Mann, der König von Gorkha, das erfährt, stirbt er sofort. Wie es ihre Pflicht ist, verbrennt sich Manakamana mit ihm. Doch zuvor hat sie ihrem Geliebten versprochen, zurückzukommen. Als ein Bauer mit seinem Pflug gegen einen Stein scheppert, und der zu bluten beginnt, wird das als Zeichen gewertet – die Göttin ist zurück. An der Stelle, an der dieses Wunder geschah, wurde der Tempel errichtet. Achim fügt hinzu, dass man hat bei gutem Wetter einen tollen Blick hat auf Annapurna und Manaslu.
Tempel der Zuversicht: Die Göttin Manakamana erfüllt die Wünsche der Gläubigen
Unfassbar viele Menschen warten in langer Reihe geduldig darauf, mit der einzigen Seilbahn des Landes zum 1300 Meter hoch gelegenen Tempel befördert zu werden. Es gibt sogar Lastkabinen, in denen Ziegenböcke – mit einem Gepäckanhänger versehen wie Koffer am Flughafen – transportiert werden. Die Gläubigen haben sich hübsch gemacht, die meisten bringen nur Pflanzenopfer für Manakamana, die Göttin, die die Wünsche der Gläubigen erfüllt.
Nepals einzige Seilbahn führt hinauf zum Tempel Mankamana. Dafür, dass dessen Heiligtum immer nur einzeln betreten wird, sorgt ein Militärpolizist
Auch am und im Tempel selbst herrscht eine gewisse Leichtigkeit und Heiterkeit: Man fotografiert sich vor der Stupa, reiht sich in eine weitere Warteschlange ein, bis man seine Opfergabe darbringen darf. Die wenigen Tiere werden nicht im sondern neben dem Tempel geschlachtet. Räucherstäbchen, Kerzen. Einige Nepali machen Fotos von uns, sie finden uns interessant. Wir haben graue Haare. Und behaarte Arme. Ein Mann streicht mir über meinen eigentlich nicht allzu sehr behaarten Unterarm, dann über seinen eigenen ganz nackten. Und beginnt herzhaft zu lachen.
Nach zwei Stunden schweben wir mit der Seilbahn zurück ins Tal. Schweigsam gleiten wir über die Dächer einer Siedlung, die alle lila lackiert wurden, Werbe-Gag eines Mobilfunkanbieters. Wir sind von den Eindrücken und Bildern der letzten Tage überwältigt. Ja, wir wollten während unseres Sabbaticals die Orte nicht nur sehen sondern auch fühlen. Momentan kommen wir uns vor wie der Zauberlehrling in Goethes Ballade.
Last-Minute-Opfer: Wer seine Gaben vergessen hat, kann am Bazar des Tempels noch einen Hahn kaufen. Oder Räucherstäbchen, die man hier bündelweise verbrennt
Unser Hotel liegt nur wenige Kilometer von Manakamana entfernt. Allerdings muss man vom Parkplatz noch über eine schmale Hängebrücke zu Fuß den Fluss Trisuli queren und dann rund 30 Minuten einem Pfad durch ein Bauerndorf zwischen Bananen und Bambus folgen, bis man Brigand’s Bend Loge erreicht. Ein paar hübsche, aber schlicht eingerichtete Bungalows in einem terrassiert angelegten, üppigen Garten. Abends sitzen wir auf einer der Veranden und hören dem Kreischen der Zikaden zu. Die Sonne sinkt hinab auf die Berge. Ein Rafting-Schlauchboot schaukelt auf dem Fluss vorbei. Die Paddler johlen vor Vergnügen. Verblüffend, was die Verrückten da unten treiben, scheint uns näher als die Rituale der Gläubigen in den Tempeln.
Am Fluss Trisuli – sehr beliebt bei Raftern – liegt unsere Lodge. Man traut sich fast nicht, es im Zusammenhang mit einer Reise durch so viele Tempel zu sagen, es ist ein Paradies der Ruhe. Wie eng Leben und Tod verbunden sind, zeigt die große Schaukel bei der Nekropole Pashupatinath: Während hinter ihnen der Rauch der Totenverbrennungen über den Hain weht, hört man vorn das Juchzen und Lachen der fliegenden Kinder