Radreise durch die Niederlande: Traumziel am Wasser – die Grachten Amsterdams
Ein Reisebericht von Susanne Baade und Dirk Lehmann
„Können wir hier weg, bitte!?“ In Judiths Augen steht fast eine Spur Panik. Auf dem Weg vom Bahnhof zur Waalseilandsgracht, in der unser Hausboot liegen soll, sind wir vom Weg abgekommen und mitten in Amsterdams Innenstadt gestrandet. Von überall kommen Fußgänger auf uns zu, schieben sich dicht an dicht vorbei. Wir auf den Rädern im Getümmel, nicht sicher, ob wir geradeaus müssen. Oder doch rechts.
Enge und Wasser
So beginnt die letzte Etappe unserer Radreise durch die Niederlande. Vier Tage Amsterdam. Und war bisher alles leicht und unkompliziert im Urlaubsparadies für Radler, fehlt uns in der Metropole anfangs die Orientierung. Keine Knooppunter. In den engen Gassen zeigt das Navigationssystem eine Fehlermeldung nach der nächsten. Wir fahren aus dem Trubel heraus und erkennen auf der Karte, dass wir schon ganz nah dran sind. Die Stimmung beruhigt sich. Es ist ein milder Sommerabend, goldenes Sonnenlicht spiegelt sich auf dem dunklen Wasser der Grachten.
Willkommen im Trubel: Erst verfahren wir uns, dann beziehen wir unser Hausboot. Auf der schwimmenden Terrasse wird das Abendessen serviert – Judith und Benita freuen sich auf Pizza
Amsterdam. Als junger Erwachsener war ich oft hier. Damals wohnte ich im Ruhrgebiet. Und fuhr mit meinen Freunden her, „um auf den Flohmarkt zu gehen.“ So sagte man. Wie andere behaupteten, sie interessieren sich für das Interview, als Antwort auf die Frage, warum sie den Playboy kauften. Wir haben Joints geraucht, den Prostituierten in die Fenster geguckt. Und die Rock-Szene der Stadt geliebt. Harmlose Ausflüge nordrhein-westfälischer Kleinstadt-Hippies.
Joints und Rock’n’Roll
Lange habe ich mein Amsterdam-Bild als chaotische Hauptstadt eines verdammt ordentlichen Landes nicht hinterfragt. Doch wenn sich Klischees festsetzen, muss man los. Eine gute Entscheidung. Wie sich diese Stadt gewandelt hat, zeigt die erste Unterkunft. Wohnten einst vor allem Arme und Aussteiger in Hausbooten, ist dieses eine schwimmende Lounge – mit großen Fenstern und offener Küche. Sparsam, aber geschmackvoll eingerichtet. Als Terrasse dient ein Boot, auf dem wir zu Abend essen. Ein wenig neidisch sehen die Teilnehmer typischer Grachten-Stadtrundfahrten zu uns herüber. Erst als wir später in den Betten liegen, das Wasser plätschert gegen den Rumpf, in der Ferne die Geräusche der Stadt, können wir es langsam fassen, das Glück an einem idyllischen Ort in dieser Metropole zu sein.
Gestern, heute, Benita: Hausboote mit Kirche und die neue Oper mit Café
400 Jahre alt wird das Grachtensystem Amsterdams in diesem Jahr. Es war ursprünglich Teil der Stadterweiterung, verkam zur Kloake und wurde erst in jüngster Zeit aufwändig saniert. Tausende von Fahrrädern holten die Bagger aus den mehr als 200 Wasserstraßen, die Hausboote wurden an die Kanalisation angeschlossen, man könne in den Grachten sogar wieder baden, heißt es. An diesem sonnigen Sonntag aber scheint ganz Amsterdam auf dem Wasser zu sein, eine schier endlose Parade tausender Boote zieht durch die Stadt, von manchen tönt Musik, von allen weht die Flagge Amsterdams – drei weiße Andreaskreuze in einem schwarzen Streifen auf rotem Grund.
Stadtrundtörn: Marc fährt uns vorbei an Tretboot-Kapitänen, Café-Gästen und zu Witwen-Häusern
Auch wir sind auf dem Wasser. Marc, unser Vermieter, hat uns auf sein Boot geladen. Er zeigt uns das neue Amsterdam mit seinen Hochhäusern und begrünten Fassaden. Wir passieren die Oper und das Filmmuseum, das Justizministerium und einen Hafenkran, der heute ein Restaurant ist.
Hochhäuser und Witwenwohnungen
Und wir erhalten eine Führung in das alte Amsterdam. Marc, Dozent an der Uni und Choreograph beim Musiktheater, ruft seine Freundin Jantine an. Die wohnt in einem der „Witwen-Häuser“ im Stadtteil Jordaan. Die Wohnung ist kaum 30 Quadratmeter groß, verteilt auf zwei mit einer steilen Treppe verbundene Etagen, hier lebt die Kostümgestalterin mit ihrem vierjährigen Sohn. Vom Dach geht der Blick über die Stadt. Er entschädigt für die Enge. Ich fädele mich durch das Fenster zurück ins Haus, taste mich vorsichtig über die schmale Stiege nach unten in die Freiheit. Puh.
Wir nehmen noch einen Drink in Marcs Lieblings-Café. Es macht Spaß, von der Wasserseite anzureisen, auch wenn uns alle dabei zusehen, wie wir unbeholfen aus dem Boot kraxeln. Marc, der in der Stadt geboren wurde, erzählt dass viele in einem Hausboot wohnen wollen. Dass das Boot selbst gar nicht teuer sei, rund 150.000 Euro habe er bezahlt, schwieriger sei es an einen Liegeplatz heran zu kommen. Er will nicht richtig sagen, was er es angestellt hat, um den Platz zu bekommen. Und dann baut sich glücklicherweise ein hagerer, ganz in Schwarz gekleideter Straßenmusiker auf, er hat lange Koteletten und zerkratzte Stimmbändern und spielt mit Hingabe und Bravour Songs von Johnny Cash und Chris Whitley, die klingen wie von einer uralten Schallplatte.
Jordaanische Verhältnisse: Großartiger Blick, aber kein Platz für Große im berühmten Bezirk
Amsterdam ist voll an diesem Wochenende. Auch deshalb müssen wir umziehen und verbringen zwei weitere Nächte in einem eher klassischen Hausboot. Es hat Bullaugen, bunte Plastikstühle stehen auf dem Deck. Die Ausstattung ist einfach, an einigen Stellen müsste renoviert werden. Doch es hat Charme. Die Mädels übernachten im Kapitänshaus, Susanne und ich schlafen unter Deck.
Klassisches Hausboot: Bullaugen, Flachbildfernseher und bunte Deckchairs
Wir besuchen das Rijksmuseum, das nach zehn Jahren Sanierung und Umbau wohl zu einem der schönsten Europas gezählt werden darf. Wir finden es wunderbar, auf den Rädern mitten durch das Gebäude zu fahren, in einen Park voller kulturbegeisterter Menschen. Klar, wer mittags her kommt, wird sich freuen, dass Rembrandts „Nachtwache“ groß genug ist, so dass man das Meisterwerk auch aus zweiter, dritter oder gar fünfter Reihe betrachten kann. Morgens aber, kurz nach Beginn der Öffnungszeit, hat man das Museum noch fast für sich allein.
Ein Wochenende in Amsterdam: Getümmel im Zentrum, Touristen und Straßenmusiker
Das ist im Anne-Frank-Museum offenbar nie der Fall. Wann auch immer wir an dem Ort vorbei radeln, in dem sich die Tragödie einer jüdischen Familie abgespielt hat, nie scheint die Warteschlange kürzer zu werden. Sie zieht sich an der Straße entlang bis auf den Platz an der nahen Kirche, wo sie nach gefühlt zwei Stunden Wartezeit endet. Auch wir gehen hinein. Was soll ich sagen? So oft man diese Geschichte auch schon gehört haben mag, sie in diesem Haus zu erleben, geht einem nahe. Und es ist völlig egal, dass man weiß, dies ist vor allem ein gut gemachtes Museum, eine perfekte Inszenierung. Man heult Rotz und Wasser.
Tränen und Verräter
Am Abend sitzen wir im „Mata Hari“ im Rotlichtviertel Amsterdams. Das nach der in Leeuwarden geborenen Nackttänzerin und berühmten – aber offenbar eher traurigen – Spionin benannte Restaurant ist weiterer Beleg für den Wandel der Stadt. Einst ein anrüchiger Club, erinnern heute nur rote Plüschsofas an die schmuddelige Vergangenheit. Das Essen ist zeitgenössisch, mediterrane Küche mit überwiegend regionalen Produkten, dazu ein schöner Blick auf eine Gracht.
Eines der schönsten seiner Art: das Rijksmuseum mit „Nachtwache“ und Großbuchstaben
Wir nutzen den Ort, um unsere Radreise durch die Niederlande zu rekapitulieren. Vor allem, dass uns diese Lebensart begeistert hat. Mögen manche auch über die holländische Bürger-Politik maulen, in der jeder zu allem seinen Senf dazu geben darf, sie hat ein sehr menschliches Land geprägt. Nicht billig. Aber freundlich. Modern. Weltoffen. Und, okay, angeblich ein wenig besserwisserisch.
Lebensart und Lachen
Junge Leute sitzen auf den Bänken am Wasser, reden, trinken, ihr Lachen weht durch einen milden Abend, wird reflektiert von modernisierten Backsteinhäusern mit großen Fenstern und kleinen Lastkränen am Giebel. Jedes dieser Häuser ist ein Portrait wert in einem Architektur-Blog. Mensch, Amsterdam, noch vor 25 Jahren warst du so eine runtergerockte Hippie-Hure. Bist du im Alter schön geworden.
Bewegende Momente: im Anne-Frank-Haus, im „Mata-Hari“, beim Bad und beim Abschied
Mich lässt zur Rückreise die Deutsche Bahn schlimm altern. Anders als angekündigt, fährt der EC mit dem Fahrradwagen am Ende des Zuges ein. Und statt eines großen Abteils, bietet der Waggon nur Platz für sechs Räder. Wir vier müssen hinein, fünf Teenager aus der Nähe von Minden mit ihren bepackten Rädern und eine junge Frau mit einem unmenschlich schweren Hollandrad, an dessen Lenker ein riesiger Korb hängt. Wir haben drei Minuten zum Einsteigen.
Abschied und Stress
Als ich realisiere, dass keiner eine Idee hat, wie das zu bewerkstelligen ist, übernehme ich das Kommando, schleppe Taschen und Räder, belle Leute aus dem Weg, stapele Fahrräder. Und habe nach fünf Minuten alles untergebracht. Schweißgebadet sitze ich im Zug. Die Jugendlichen danken mir, „sonst wären wir wohl nicht mit gekommen“. Und ich entschuldige mich, dass ich so rumgeblafft habe. Nach wenigen Minuten ist der Stress vergessen. Nur ein diffuses Gefühl bleibt: Holland, du hast es besser.
Auszug aus dem Paradies: Winzig ist das Radabteil im deutschen EC, schön das Licht über Hamburg
INFO
Beide Hausboote haben wir gebucht über www.bedandbreakfast.nl. Auch auf www.iamsterdam.com finden sich hübsche Hausboote. Die sind nicht billig, etwa 120 Euro muss man pro Nacht kalkulieren. An Wochenenden kann man in den Business-Hotels rund um das Zentrum günstig übernachten, so gibt es das Doppelzimmer im schick gestalteten Artemis oft bereits ab 50 Euro, die Fahrt mit der Straßenbahn in die Stadt dauert mindestens 30 Minuten. Wer mehrere Museen besichtigen will, für den lohnt sich die Iamsterdam-Card, sie gilt unter den vielen City-Cards als eine der besten. Dennoch sollte man vorher prüfen, ob sich die Anschaffung rechnet, sind doch nicht alle Museen Kooperationspartner, so gewährt das Rijksmuseum nur einen Rabatt von 2,50 Euro auf den Eintritt, das Anne-Frank-Haus gar keine Vergünstigungen. Wer das besuchen will, sollte die Tickets vorab online bestellen, man betritt das Museum durch einen Seiteneingang, ohne sich in die Warteschlange einreihen zu müssen. Und zu guter letzt noch ein Rat: Nicht mit dem Auto durch Amsterdam fahren, das ist nur was für Stress-Junkies! Die Stadt wurde – noch vor Kopenhagen – zur besten Bycicle Friendly City gewählt, hier kann man überall günstig Räder leihen, Holland-Räder ab 8 Euro pro Tag etwa bei Star Bikes, ein Verzeichnis aller Anbieter hier.
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Hinweis: Die Recherchereisen für diesen Blog wurden zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien, Reedereien und/oder PR- bzw. Tourismus-Agenturen. Unsere journalistische Freiheit bleibt davon unangetastet. Wir danken dem Niederländischen Büro für Tourismus und Convention und Amsterdam Marketing.