Ein Paar auf Reisen: Aus dem New England House blickt man auf Old Brighton mit Eisenbahnviadukt
Ein Reisebericht aus Brighton von Susanne Baade (Fotos) und Dirk Lehmann (Text)
Wir sind nach Brighton gereist, um dem Spirit dieser Stadt nachzuspüren: Was zieht Kreative und Köche, Lebenskünstler und Lebensgestalter in das Seebad. Wer sind sie? Was tun sie? Was treibt sie an? Wir haben Menschen getroffen, die diese Stadt prägen wollen und präsentieren in vier Teilen das Lebensgefühl der Brightonians. Teil II: Aufbruch.
Unsere Neugier auf das neue Brighton führt uns zum Hintereingang eines 60er-Jahre-Hochhauses. Sieht nicht so sexy aus. Die Gegend ist auch nicht wirklich prickelnd. Und wir fragen uns: Muss das sein? Man könnte so ein Stadtportrait auch mit bekannten Sehenswürdigkeiten füllen, man beschreibt den verrückten Palast von Prinz George, läuft durch die von edlen Shops und guten Restaurants gesäumten Gassen des Stadtteils The Lanes und weiter in das von cooleren Shops und vor allem vegetarischen Restaurants geprägte Viertel der North Lanes. Dann noch eine Comedy-Show im Dome, ein Bier in einem feisten Pub. Mehr braucht es nicht.
Unter der Eisenbahn
Laaangweilig denkst du, lieber Leser, und machst eine Handbewegung wie Mr. Chow, der japanische Mafiosi aus der besten Hangover-Episode (Teil I in Las Vegas). Ja, dachten wir auch (trotzdem: ein paar tolle Restaurants stellen wir in einem späteren Beitrag auch noch vor). Und wir machten uns auf den Weg in einen der angeblich spannendsten Stadtteile Brightons: London Road.
Form follows Funktion: Gitterfassade und breite, gabelstaplertaugliche Flure im New England House
Auf den ersten Blick wirkt die Gegend wenig einladend, gedrungene Häuser, seltsame Geschäfte, alte Kerle mit Kampfhunden. Dominiert wird London Road vom Eisenbahnviadukt, auf dem der Zug nach Lewes über die Häuser rumpelt, und einem achtgeschossigen Gebäude, dem New England House. Wir stehen vor der Fassade, die wie ein frühes Computer-Spiel aussieht. Und finden hinein. Ungewöhnlich breite Flure und ungewöhnlich hohe Räume. Der Duft nach frisch gebackenen Croissants. Das London House war eines der ersten mehrgeschossigen, als reines Industriegebäude geplanten Häuser der Welt.
Super Fused City
Längst ist alle Industrie, die hier jemals angesiedelt war, verschwunden. Und hinter den Türen der gabelstapler-tauglichen Flure haben sich junge Unternehmen angesiedelt. Manche backen Brot, einige nähen. Die meisten sind moderne Dienstleister. Das New England House ist ein gutes Beispiel, wie man eine Industriebrache neu nutzen kann. Große, lichtdurchflutete Räume, von der Stadt für wenig Geld vermietet. Man hat keine enormen Einnahmen, aber geringere Kosten als für Abriss und Aufbereitung der Fläche nötig wären.
Von hier geht die Vernetzung dieser Stadt aus. Brighton wird zur SuperFused City, Keimzelle dafür ist Wired Sussex, eine Organisation, die Start-Ups und Ingenieure, Firmen und Künstler vernetzt. Man denkt nicht mehr in Schubladen, man teilt sich einen Ort, ein altes Industriegebäude als Keimzelle einer neuen Wirtschaftsordnung. In diesen kreativen Räumen treffen wir Cici Blumstein. Die gebürtige Deutsche lebt seit 1989 in Brighton und ist „Artist in Residence“ im New England House. In einem großen Büro, in dem einige Unternehmer davon träumen, das nächste Facebook zu werden, interpretiert Cici Raum und Zeit neu.
Little Data: Künstlerin Cici Blumstein zeigt, wie man den Raum ausfüllen kann, der einem zusteht
Dafür hat sie eine Formel abgeleitet die tatsächlich in der Stadtplanung eingesetzt wird – die „Floor-Area-Ratio“. Demnach steht jedem Menschen in einer Stadt ein gewisses Raummaß zur Verfügung. Und Cici lädt dazu ein, mit diesem Raumangebot zu spielen, es zu variieren, mit Leben auszufüllen. Zur Veranschaulichung der FAR wurde ein Winkelmaß im Büro errichtet – ein überdimensionales Geodreieck.
„Du kannst damit machen, was du willst: dich hinein legen, setzen, ans Ende kauern, allein sein, andere einladen, dich daran abarbeiten…“
Und die zarte Frau mit den knallroten Haaren, den großen Augen und dem ansteckenden Lachen turnt, ja tanzt durch den Winkel in ihrem Büro. „Measuring Room“ nennt sie die Installation.
Ein Stück Stadt
Für ihre Performances reist sie allerdings nur mit einer Papierrolle durch England, schneidet körperlange Streifen ab und lässt Passanten diesen Raum beleben. Den nennt sie „Little Data“. Im Gegensatz zum Bebauungs- oder Flurplan einer Gemeinde, will sie das menschliche Maß einer Stadt definieren. Es ist ein Raster, klar. Doch Cici interessiert sich nicht für die Flächen, nicht für das digitalisierte Patchwork. Ihre Daten sind dynamisch, bestehen aus Bewegungen und Erwartungen, aus Gefühlen und Haltungen. Eigentlich ist Cici eine Geschichtensammlerin.
Küssen Sie den Frosch nicht! Stellen Sie ihm eine Frage: das Amphibische Orakel
Das gilt auch für ihr neues Projekt, das Amphibien-Orakel. Im vergangenen Winter entdeckte sie einen Frosch in ihrem Garten und beschloss, das entkräftete Tier aufzupäppeln. Es gelang. Cici schloss das grüne Wesen in ihr Herz und begann die Lebensweise der Gattung zu studieren. Jetzt weiß sie, dass Frösche einander am Klang ihrer Stimmen erkennen. Und sie behauptet, die Tiere können die Zukunft vorhersagen. So man sie denn fragt. Allerdings muss man die Sprachbarriere überwinden. Cici behauptet, dass sie die Worte in Gequake übersetzen kann. Man müsse ihr nur erzählen, worum es geht. Die Künstlerin als Medium. Dabei ist doch ganz klar, dass sie vor allem eins tut: Daten sammeln, Stories, den Baselayer einer Stadt. Denn die ist nicht einfach ein Raum – die ist vor allem die kollektive Erinnerung ihrer Bewohner.
Worüber freut sich ein Frosch? Genau: über eine Teichlandschaft. Diese ist überall einsetzbar
Warum in Brighton? Warum nicht in London oder Glasgow?
Cici sagt, sie sei eigentlich zufällig her gekommen. Aber sie habe sich sofort verliebt in diese kleine große Stadt an der See und die Aufbruchstimmung, die hier herrsche. Brighton sei kosmopolitisch und doch überschaubar, sei liberal und doch ein Gemeinwesen mit viel Zusammenalt. Und sie ergänzt:
„Es ist gut hier. Ihr werdet auch öfter kommen.“
Ein Magiker des Windes und der Aerodynamik: Chris entwickelt Flügel und verwirklicht Visionen
Ein paar Büros weiter, mit einer hübschen Kollektion an Fahrrädern hinter der Tür, treffen wir Christopher Hornzee-Jones. Der Ingenieur ist einer der weltweit führenden Windexperten. Sein Unternehmen Aerotrope gestaltet das Design der Flügel von Großwindanlagen und entwickelt Hängegleiter, er hat mit „Sailrocket“ das schnellste Segelboot der Welt gebaut (gemessene Höchstgeschwindigkeit an der Küste Namibias: 121,2 Km/h) und für den in Indien geborenen Künstler Anish Kapoor einige spektakuläre Projekte verwirklicht – etwa den Wirbelsturm in der Basilica di San Giorgio in Venedig und, Ende September, die aufblasbare Konzerthalle in Japan. Würde man für Chris einen Superhelden im Marvel-Comic-Kosmos erfinden wollen, er hieße Storm-Man.
Storm-Man
Chris, der erfolgreiche Aeronaut, wurde von seinem Großvater zum Ingenieur- und Erfinderdasein angeregt. Der gestaltete Mitte der 1940er Jahre, als in London das Benzin rationiert war, ein dreirädriges Fahrrad mit einer leichten stromlinienförmigen Karosserie. Die Familie nutzte das Gefährt als Stadtwagen. Und wie sein Großvater ist auch Chris ein Tüftler im besten Wortsinne, ihn treibt nicht nur die Neugier sondern auch der Perfektionismus. Und natürlich die Herausforderung, das Besondere zu gestalten.
Brighton erfindet sich neu: Arbeiter-Stadtteil ohne Arbeiter, Kaufhausfassade ohne Kaufhaus
Wir sprechen über die Zukunft des Verkehrs in der Stadt und über die Bedeutung des Windes für die Energiegewinnung. Chris hat klare Meinungen und legt seine Einschätzungen überzeugend dar. Es ist verblüffend, wie jung der erfolgreiche Ingenieur mit den langen, zu einem losen Zopf gebundenen Haaren wirkt.
Und, klar, auch im müssen wir die alles verbindende Frage stellen: Warum Brighton?
„Die Stadt hat eine tolle Atmosphäre. Es gibt hier alles, was ich brauche. Und wenn ich Sehnsucht nach der Metropole habe oder einen Termin etwa mit internationalen Gästen, setze ich mich in den Zug nach London.“
Nachbarschaft: Der Shop für Näh-Zubehör ist längst online, Begegnung mit Tüten in der Straße
Zum Abschluss bitten wir auch Chris um Tipps für London Road. Und er empfiehlt uns, ein Kaufhaus anzusehen dessen Fassade erhalten bleiben soll, das gesamte Gebäude allerdings wurde längst abgerissen. Es steht wie ein ausgehöhltes Gebiss im Gesicht der Stadt. Cici hatte uns geraten, in eine 1894 erbaute Baptisten-Kirche zu gehen, die inzwischen Theater und Café ist. „Der Kuchen ist super.“ Und so schlendern wir durch einen Teil Brightons mitten in einem Häutungsprozess. Und finden es spannend, wie viel Lebendigkeit und Kraft in dieser Stadt stecken.
Ein Halleluja auf den Kuchen im „Emporium“: die einstige Baptisten-Kirche ist Theater und Café
London Road kommt uns jetzt schon viel vertrauter vor. Der Stadtteil erinnert ein wenig an Berlin Neukölln, das zum Landwehrkanal hin schon hip ist, aber zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße noch wenig Sex-Appeal hat. Später sitzen wir im „Emporium“, in einem hohen Raum mit bröckelnden Wänden und Möbeln vom Sperrmüll. Susanne bestellt eine Tarte, ich Kaffee und Kuchen. Es ist gut, hier zu sein.
Große Party
Wir sind wie Gäste, die etwas zu früh zu einer Party kommen. Im ersten Moment ist das peinlich, man überlegt sogar, wieder zu gehen. Doch dann sind die Gastgeber total freundlich, geben einem ein Glas Crémant, man unterhält sich mit ihnen und sieht zu, wie sie die letzten Vorbereitungen treffen. Hilft etwas mit. Im weiteren Verlauf des Abends wird man einander nie mehr so nah sein. Es werden viele Besucher erwartet. Und man weiß, es wird ein tolles Fest.
Stadt im besten Licht: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Es macht aber Spaß, hier zu sein
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Hinweis: Die Recherchereisen für diesen Blog werden zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien, Reedereien und/oder PR- bzw. Tourismus-Agenturen. Unsere journalistische Freiheit bleibt davon unangetastet. Wir danken Visit Brighton und den wundervollen Menschen dieser Stadt.