Susanne auf dem Weg nach oben
Nordwandhalle heißt etwas großkotzig eine neue Kletter-Anlage im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg. Errichtet wurde die Halle vom hanseatischen Outdoor-Unternehmen Globetrotter. Und sie wartet mit vielen Superlativen auf: Gesamtkletterfläche 3500 Quadratmeter, davon 2500 Quadratmeter innen. 16,50 Meter hoch ist die Halle, ausgelegt mit einem neuartigen Fallschutzboden, der Stürze abmildern soll. Man geht darauf, wie auf einer riesigen Matratze.
Dirk, die Kinder und ich sind zur Eröffnung hinaus gefahren. Es war ein wunderschöner Frühlingstag, einen wie ich ihn so schon lange nicht mehr erlebt habe in Hamburg. Die Kletterhalle ist eines der ersten schon abgeschlossenen Bauwerke auf dem Gelände der Internationalen Gartenschau, eine moderne Halle mit riesigen Glasfenstern, die sich öffnen lassen, ein leichter Wind weht herein.
Der Bau ist großzügig und hat für Anfänger wie uns unzählige Möglichkeiten. Wir probieren uns an den Wänden aus, an denen man ohne Sicherung trainieren darf. Ich greife nach den ersten Vorsprüngen, schiebe mich hoch und bekomme nach zwei Metern Herzrasen. Ich habe Angst vor der „Höhe“. Neben mir klettert ein Mann um einen Felsvorsprung herum und Benita, Dirks jüngste Tochter, ist mittlerweile schon oben angekommen.
Wir beschließen, jetzt „richtig“ los zu legen und gehen an die höheren Wände, für die man gesichert wird. Die Mitarbeiter sind wahnsinnig nett, geben uns die passende Ausrüstung und kaum habe ich Benitas Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden ist sie schon wieder auf dem Weg nach oben, furchtlos und schnell kraxelt sie hinauf, „Spidergirl“.
Als Judith auf dem Weg nach oben ist, der große Schreck – fast an der Decke angekommen, zerbricht ein Plastikvorsprung unter ihrem Fuss, die Einzelteile fallen laut polternd zu Boden. Doch Judith fängt sich, bleibt dicht an der Wand, signalisiert ok und nimmt die restlichen Vorsprünge, bis sie ganz oben angekommen ist. Wir auf dem Boden sind fassungslos. Man erklärt uns, dass die Griffe manchmal zu fest angeschraubt werden und dann bei starker Belastung regelrecht platzen. Wieder unten zittern Judiths Hände.
Dann bin ich dran. Etwas mulmig ist mir nach wie vor, jetzt setzt mir nicht nur die Höhe zu, sondern auch die trügerisch sicher aussehenden Vorsprünge. Ich überprüfe, ob mein Fuß genug halt hat auf dem Vorsprung, dann lasse ich die Hand los, greife nach dem nächst höheren Griff. Den Hintern immer schön dicht an der Wand, klettere ich langsam nach oben. Der linke Fuß ertastet einen weiteren Vorsprung, die Hand greift nach, ich drücke mich mit den Beinen weiter. Langsam taste ich mich vor, immer weiter. Und schon erreiche ich das Ende der Kletterwand. Ich schaue nach unten und finde es verdammt hoch, mir ist etwas bange. Aber dann vertraue ich der Sicherung, gebe mein Gewicht in die Gurte und werde abgeseilt.
Wieder unten, fällt mir auf, dass ich beim klettern an Nichts anderes gedacht habe, als daran nach Oben zu gelangen. Ich war so konzentriert auf das, was ich tat, dass ich alles andere vergessen hatte. Das muss Flow sein, denke ich und lasse mich ein zweites mal sichern. Der nächste Pacour ist schwieriger, mir wird warm. Doch auch hier – ich habe keine Angst, nur den nächsten Griff, den nächsten Tritt im Blick. Ich erlebe dabei etwas, was ich nur selten fühle, das Sein im Augenblick. Keine überflüssigen Gedanken überfluten mein Gehirn – ich denke nicht an die Arbeit, nicht an den Alltag, nicht an die Menschen und die Situation um mich herum – ich taste mich einfach voran, höher und höher.
Nach dem Klettern sitzen wir auf der Terrasse in der Sonne, uns geht es gut. Ich bin glücklich, glücklich darüber, etwas neues ausprobiert, mich überwunden zu haben. Und etwas gefühlt zu haben, was ich mir vom Sabbatical wünsche – ganz in dem aufzugehen, was man tut.