Containerschiff auf dem Weg zur See
Expedition im Alltag: Vor einigen Jahren wurde der „Loneley Planet Guide to Experimental Travel“ veröffentlicht. Es war ein Kompendium für das Abenteuer in der Nachbarschaft. Vorgeschlagen wurden Reise-Experimente mit vieldeutigen Titelzeilen wie „Monopoly Travel“, „Reise zum K2“ oder „Jugendherbergsübernachtung in der eigenen Stadt“. Viele dieser Vorschläge lasen sich skurril, dass man etwa erst auf dem Monopoly-Spielbrett würfeln und dann Straßen, die so heißen wie auf dem Spielbrett (etwa Badstraße, Bahnhofsstraße, Parkallee), in genau der Reihenfolge bereisen solle. Dass man auf dem Stadtplan den Punkt K2 aufsuchen solle. Oder dass man in der eigenen Stadt in einer Jugendherberge übernachte. Offenbar war das Buch nicht sehr erfolgreich, es ist so gut wie vom Markt verschwunden. Dabei hatte es einen nachvollziehbaren Charme, gipfelnd in der Prämisse: Die große Reise führt nicht unbedingt in die Ferne – sie beginnt vor der Haustür.
Wenn man in Hamburg wohnt, ist es nicht leicht, sich auf ein Trekking im Himalaya vorzubereiten. Zu den höchsten Erhebungen in Norddeutschland gehört der 129 Meter hohe Brunsberg in Niedersachsen, dessen Gipfel zu erklimmen alles andere als eine Herausforderung ist. Man fährt mit der S-Bahn nach Buchholz und wandert durch Mischwald hinauf auf die sandige Kuppe, von der aus der Blick weit über dieses waldreiche Stück Norddeutschland geht. Während man oben steht und eine kurze Rast genießt, kommen einige Spaziergänger herauf, grüßen artig, machen Fotos, verschwinden wieder, ein Mountainbiker bremst, trinkt einen Schluck, scheint sich etwas unwohl zu fühlen in seiner Montour und verschwindet wieder. Ein unspektakulärer Ort.
Das Trekking bis zum nächsten Basecamp dauert von der Innenstadt rund drei Stunden. So lange braucht man, um die 15 Kilometer zum Elbe-Camping zurück zu legen. Der Camping-Platz ist eine Exklave in den vermögenden Elbvororten. Wer dem Fluss folgend durch Blankenese und Rissen wandert, kommt an Villen vorbei, die alle Klischee-Vorstellungen über den Reichtum der Hamburger nur bestätigen. Die davor parkenden Autos passen ins Bild. Doch auch wenn man ein Freak ist, weil man mit Trekking-Rucksack und Isomatte auf dem Rücken wie ein Penner durch diese Reichenviertel geht, wird man nie seltsam angegafft, die Hamburger sind weltoffen. Im Elbe-Camp angekommen, zählt das sowieso nicht mehr – man ist an einem Ort außerhalb aller hanseatischer Etikette. Hier gibt es keine teuren SUVs, keine Todds-Schuhe und keine Blondinen in pastellfarbenen Blusen. Dafür Outdoor-Sandalen, kurze Hosen, offene Westen.
Wir holen Zelt, Gaskocher, Schlafsäcke und Isomatten aus dem Rucksack und errichten unser Camp. Es ist früher Nachmittag, die Sonne dringt kaum durch das dichte Grün am Elbhang, der schlammig braune Fluss riecht frisch. Unser Zelt steht in erster Reihe – mit Blick auf das Wasser und die dicken Pötte, auf ihrem Weg vom oder zum Hafen. Am Strand der Duft von Sonnenmilch, Kinder plantschen im Wasser, und ein Eisverkäufer schiebt seinen Wagen über den heißen Sand. Erstaunlich, wie wenig es braucht, um sich in seiner eigenen Stadt wie im Urlaub zu fühlen.
Fast verlieren wir jedes Zeitgefühl. Und während eines langen Strandtages scheint Hamburg weit weg zu sein. Und offenbar ist die Zivilisation auch weit weg, für uns Spätduscher gibt es kein warmes Wasser mehr. Dabei ist es kaum 20 Uhr. Eine halbe Stunde später dann der nächste Schreck, das Picknick am Strand scheitert daran, dass wir die obligatorische Dose Ravioli nicht erhitzen können, der Gaskocher bleibt aus, offenbar passt die neue Kartusche nicht. In der Wildnis hätten wir uns ein paar Käfer suchen müssen, doch das bleibt uns zum Glück erspart, wir kaufen Pommes am Elbe-Camp-Kiosk, sitzen auf unserer Decke, stippen die frittierten Kartoffelstäbchen abwechselnd in Ketchup und Mayonnaise und schauen dem Abend beim Dämmern zu.
Nachts demonstriert das Hamburger Wetter seine einzig verlässliche Dimension – die Unbeständigkeit. Es regnet ohne Vorhersage. Der Regen trommelt aufs Zeltdach. Dirk schläft tief und fest, ich liege wach. Mein Daunenschlafsack ist viel zu heiß. Erst als die Vögel den nächsten Tag ankündigen, schlafe ich ein. Und erst später sehen wir, dass wir einen Rucksack, Schuhe, Handtücher die Nacht über draußen stehen ließen. Alles ist pitschenass. Und weil sich eine lange Schlange gebildet hat vor der einzig warmen Dusche, seifen wir uns unter kaltem Wasser ein und verfluchen unsere Lust am Experiment.
Nach dem Frühstück bauen wir das Zelt wieder ab, rollen die Isomatten auf, stopfen die Schlafsäcke in den Rucksack. Und auch wenn dieser Campingkurztrip kein Training für spätere Wanderungen gewesen sein mag, als mentale Vorbereitung war er perfekt. Es fühlte sich wie eine Auszeit an, in seiner eigenen Stadt an einem ungewohnten Ort zu übernachten. Wir werden noch weitere Lonley Planet-Experimente ausprobieren. Zum Beispiel in einer Jugendherberge übernachten. Die nächste liegt auf dem Stintfang, rund 300 Meter von unserer Wohnung entfernt. Am Ende einer Straße, die Venusberg heißt. Ihr höchster Punkt: 35 Meter über Meeresspiegel. Das gilt bestimmt auch nicht als Training. Aber auch dieser Ausflug wird sich wie eine Auszeit anfühlen.