Ein perfekter Ort für eine schnelle Entschleunigung: die Nordsee-Insel Juist, auch Töwerland genannt – Zauberland
Wir hingen in einem Stau fest, in einer der Baustellen auf der A 1. Jetzt zeigt uns das Navigationsgerät, dass wir erst um 19:17 Uhr in Norddeich ankommen werden. Eigentlich aber sind wir gebucht für den Flieger um 18:45 Uhr. Sollten wir den verpassen, gibt es nur noch eine Möglichkeit, heute Juist zu erreichen, wir können die Fähre nehmen, die letzte legt um 19:30 Uhr ab. Es darf also nichts mehr passieren, keine Baustelle, kein Lastwagenrennen, kein nix. Wir fahren 200 km/h. Susanne hockt ganz still auf dem Beifahrersitz, die Hände um den Türgriff gekrallt, ich presse die Finger um das Lenkrad, die Autos auf der rechten Spur scheinen zu stehen – wie lange man wohl braucht, um sich von diesem Stress zu erholen?
zum Glück brauchten wir nicht lange zum Erholen und vor allem nicht viel dafür – wie dieser Film beweist
Wir sind unterwegs nach Juist, weil der Claim der Insel lautet, „Juist entschleunigt“. Das machte uns neugierig. Wir fragten uns, wie viel Auszeit ist möglich an einem Wochenende? Wie weit kann man runter kommen auf einer deutschen Nordsee-Insel? Leichter Nieselregen setzt ein, wir rasen weiter (an dieser Stelle einen kleinen Dank an das Team der Sixt-Station auf der Reeperbahn für den Sportwagen). Aber offenbar ist das Zeitalter des Tempos vorbei. Das Navigationsgerät belohnt unsere Mühen und meldet als neue „Ankunftszeit: 19:11 Uhr“. Es bleibt knapp.
Reise mit der Fähre: Feuerwehrwagen auf der „Frisia“, Passagiere im Bordrestaurant
Den Flieger verpassen wir schließlich nur um fünf Minuten. Und kaum ist der Ärger darüber verflogen, zeigt sich, dass die Fähre das bessere Gefährt ist, um dieses Wochenende einzuleiten. Mit dem Flugzeug dauert die Reise von Norddeich nach Juist rund fünf Minuten, mit dem Schiff sind es knapp anderthalb Stunden. Wir sitzen unter Deck (der Regen ist stärker geworden), trinken etwas, sehen Kindern zu, die wie aufgedreht durch das in einem seltsamen Farbmix aus Braun, Orange und Blau dekorierte Restaurant der „Frisia I“ toben, beobachten wie das Schiff durch die mit Birkenzweigen ausgesteckte Fahrrinne schippert. Unsere Tischnachbarn erklären, warum die Fahrt so lange dauert, dass wir an der Wattseite der Insel entlang fahren müssen, bis man die Hafeneinfahrt erreicht. Und als wir schließlich da sind, empfängt uns der Lärm von Feuerwehrsirenen, denn die Fähre bringt ein neues Einsatzfahrzeug auf die Insel – es wird von seinen Kumpels begrüßt mit lautem Tatü-ta-ta.
Wie ein weißer Ozeandampfer liegt unser Hotel hinter den Dünen, nur einen kurzen Spaziergang vom Anleger entfernt. Das „Kurhaus Juist“ wurde 1898 eröffnet, es ist ein famoses Beispiel der deutschen Seebäder-Architektur, ein typischer Gründerzeit-Bau, mit großen Treppen, hohen Decken und schweren Kronleuchtern. Zwischenzeitlich steckte das Haus in der Krise, wurde mit viel Geld renoviert und ist heute 4-Sterne-Superior-Hotel. Es hat eine gläserne Kuppel wie der Reichstag. Von da aus sehen wir der Sonne zu, wie sie langsam im Meer verschwindet.
Schon in der Nacht zeigt Juist seine Wirkung, wir schlafen so tief und fest wie lange nicht. Nach neun Stunden werden wir erst wach – und wollen schon in das Restaurant stürmen, wo wir uns auf den letzten Drücker ein hektisches Frühstück einwerfen sehen. Doch da heißt es, dass das erste Essen des Tages bis 11:30 Uhr serviert wird. Es gibt frische Croissants und Kuchen, Müsli und Obstsalat, Wurst und Käse, Eierspeisen und eine Fischplatte. Der Regen nieselt gegen die großen Fenster, dann bricht die Sonne wieder durch die tief hängenden Wolken, die weiß und grau und schwer über das Meer jagen. Wir tupfen mit den Stoffservietten unsere Münder sauber und beschließen einen ersten Strandspaziergang zu machen.
In gebeugter Haltung stapfen wir durch den Wind. Anfangs noch stecken wir wie die anderen Gäste in unseren Regenjacken. Doch schon bald wird es wärmer, die Sonne tut gut auf der Haut. Wir setzen uns in einen Strandkorb und sehen einfach nur den Elementen zu. Wie der Sand in Wechten über den Strand fegt, die Wellen mit weißen Kronen gegen die Insel anrennen, wie die Wolken mal bedrohlich tiefdunkelgrau, mal zuckerwatteweiß über den Himmel gleiten. Ein beeindruckendes Schauspiel, dem man Stunde um Stunde zuschauen kann. Und darüber kann man müde werden. Sehr müde. Immer wieder liest man denselben Satz im Buch. Man döst ein wenig, schläft ein. So einfach kann Erholung sein.
Irgendwann spazieren wir zurück ins Hotel, wir liegen in der Sauna, liegen im Ruheraum und liegen – nach einem kurzen Abendessen – früh und „völlig erledigt“ im Bett. Verblüffend, wie tiefenentspannt diese Insel ist. Das liegt daran, dass Juist nichts zu sein vorgibt. Das Töwerland (plattdeutsch für Zauberland) wirbt nicht mit „Events“, stellt sich nicht als „Location“ dar. Die Insel ist authentisch unspektakulär, 17 Kilometer lang, bis 900 Meter breit und maximal 22 Meter hoch. Einfach nur eine wundervolle Bühne für das Wetter, das sich hier in allen Facetten präsentiert, und zwar in Cinemascope. Und in 3D. Als wir morgens wach werden, trommelt wieder leise der Regen gegen die Fenster. Was ein Glück. Wir bleiben einfach noch etwas liegen.
Abreise mit Pferd und Flugzeug – und Blick auf Norderney
PS: Mit dem Kombi-Ticket bucht man eine Überfahrt per Schiff, eine per Flugzeug. Da wir den Hinflug verpasst hatten, fliegen wir nach Norddeich zurück. Mit dem Pferdekutschen-Taxi geht es zum Flugplatz Juist. Die Taschen werden gewogen, die Kurtaxe wird abkassiert, wir warten draußen auf die zweimotorige Maschine, die über das Dünengras einschwebt. Dass der Wind in Stärke 6 bis 7 bläst, stört den Piloten nicht, erst ab 9 werde es unangenehm. Er zieht die zweimotorige Islander rabiat hoch, schnell wird die Insel kleiner, wir sehen Norderney, zwei Fähren, Sandbänke, und schon wieder senkt sich die Nase der kleinen Maschine vom Typ Islander. Am Ende hat der Flug nicht ganz 5 Minuten gedauert. Für unseren Piloten keine Herausforderung, 20 bis 30 mal fliegt er die Streck an einem Tag.