Geisterstadt im Südpolarmeer: Ein Königspinguin watschelt zur Kirche, zwei Robben dösen vor rostigen Schiffen. Die Walfangstation Grytviken in Südgeorgien verfällt
Ein Reisebericht von Susanne Baade und Dirk Lehmann
Auf der Flensplattform liegt ein Wal, vor ihm posieren die Männer mit ihren scharfen Messern, bereit das gewaltige Tier aufzuschneiden. Nur der so genannte Blubber, die den Tran enthaltende obere Hautschicht des Wals, interessiert die Arbeiter. Sie lösen das Fett aus und kochen es in riesigen Kesseln ab, um daraus Öl zu gewinnen. Es ist ein begehrter Rohstoff im Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts. Und weil man mit dem Rest des Säugers noch nichts anzufangen weiß, zerrt man den durch die Flensmesser gehäuteten Kadaver einfach ins Meer, wo er verwest. Beißender Gestank liegt in der Luft – und das Geschrei der Raubmöwen, die die Knochen abpicken.
Die 1904 auf Südgeorgien gegründete Walfang-Station Grytviken verarbeitet in ihrem ersten Jahr 184 Wale, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges werden von hier aus mehr als 28.000 Tiere erlegt, bis Mitte der 1960er Jahre sind es rund 175.000. Dann wird auch Grytviken – wie vorher die anderen Stationen dieser Art auf der Inselgruppe – aufgegeben. Der Walfang lohnt nicht mehr. Statt Tran verwendet man nun Erdöl als Schmier- und Brennstoff. Zudem sind die Bestände völlig dezimiert. Konnte man um 1930 noch rund 30.000 Blauwale fangen, ziehen die rund 30 Jahre später in der Antarktis operierenden Walfangschiffe aus aller Welt nur noch 20 Tiere an Bord. Das größte Lebewesen der Erde ist nahezu ausgerottet.
Seereise in die Vergangenheit: Expeditionsleiter Stefan Kredel zeigt den Passagieren, wo es hin geht. Den Kurs zu den verlassenen Walfangstationen bestimmt die Brücke. Kapitän Mark Behrend – kurzärmelig wie immer – gibt die Kommandos für die anspruchsvolle Fahrt in die engen Fjorde Südgeorgiens. Auf den Decks stehen die Passagiere, die allermeisten sind froh, dass die Zeit des Walfangs vorbei ist
Mit solchen Informationen im Kopf verlässt man das Museum von Grytviken und findet den Ort noch unwirtlicher als er im Nebel und bei leichtem Schneetreiben um 0 Grad ohnehin ist. Eine Bucht, eingefasst von schwarzem schroffen Fels, eine kleine Landzunge, darauf die rostigen Ruinen einer Industrie, die den Stoff für Heldengeschichten geliefert hat, und die heute von den meisten Menschen verachtet wird. Mag der Walfang anfangs noch etwas gemein gehabt haben mit dem Mythos vom Kampf des Menschen gegen das Untier, um 1900 wird er zum industrialisierten Gemetzel – Schiffe harpunieren mit Präzisionskanonen, pumpen ihren Fang mit Pressluft voll, damit er nicht untergeht, und schleppen ihn zu Stationen wie Grytviken. Es war die erste ihrer Art.
Auf Südgeorgien wurden mehrere Walfangstationen errichtet, Außenposten der Zivilisation in dieser menschenfeindlichen Welt. Walfänger waren die ersten, die die Antarktis besiedelten. Deshalb besucht die Bremen einige der verfallenen Orte. Expeditionsleiter Stefan Kredel zeigt auf der Karte, wie das Schiff fahren wird. Vorerst wird es keine Anlandungen geben, wegen Einsturzgefahr sind die Stationen gesperrt. So versammeln sich die Gäste am Abend auf den Decks und beobachten, wie der Kapitän und sein Team das Schiff in die Fjorde hinein manövrieren. Kameras richten sich auf bizarre Geistersiedlungen. Sehr still ist es an Bord.
Anfang und Ende: In Grytviken begann der industrielle Walfang auf Südgeorgien, weitere Stationen wurden nach und nach errichtet. Doch nur zwischen den Tanks der 1904 von norwegischen Walfängern gegründeten Siedlung sind Besucher erlaubt. Auf dem Friedhof wurde der Polarforscher Ernest Shackleton beerdigt – auf Wunsch seiner Frau. Der Kapitän der Bremen hält eine kurze Rede auf den berühmten Seemann
Nur in Grytviken landen wir an. Zwei halb versunkene Wracks liegen am Ufer, in ihrem Windschatten schlafen Robben. Wir spazieren durch Reihen rostiger Tanks. Auf dem Weg zur Kirche begegnen wir einem Königspinguin, der offenbar dasselbe Ziel hat. Es tut gut zu sehen, dass dieser schaurige Ort inzwischen von den Tieren in Besitz genommen wurde. Vögel, Robben, Pinguine, Seeelefanten. Sie erobern sich das Land zurück.
Drei Menschen leben hier – in der Hoch-Zeit waren es rund 2000 –, sie betreiben das Museum und pflegen den Friedhof, an dem sich die Gäste der Bremen um 11 Uhr versammeln. Kapitän Mark Behrend hält eine Rede am Grab von Ernest Shackleton. Der war zwar ein erfolgloser Entdecker, keine seiner drei Südpol-Expeditionen stand unter einem guten Stern, aber ein großer Seemann. Nach dem Untergang seines Schiffes „Eindurance“ im Packeis der Antarktis ließ er die Mehrzahl seiner Mannschaft auf Elephant Island zurück und segelte im April 1916 mit fünf Matrosen in einem Rettungsboot los, um Hilfe zu holen. 1500 Kilometer fuhren sie durch das stürmische Südpolarmeer und erreichten tatsächlich Südgeorgien. Im August konnte Shackleton seine Männer mit einem chilenischen Schlepper retten. Im Januar 1922 stirbt der bereits zu Lebzeiten berühmte Polarforscher zu Beginn seiner dritten Expedition in Grytviken an einem Herzinfarkt. Wir trinken einen Schnaps auf ihn.
Ruhe in Frieden: Industrieruine des Walfangs und das Grab des Entdeckers
Gegen Mittag bricht die Bremen auf nach Gold Harbour. Wegen der katabatischen Winde, die meist nachmittags aufziehen, war für den heutigen Tag eigentlich keine weitere Anlandung geplant. Aber der Kapitän hat eine E-Mail von einem anderen Schiff erhalten, die Wetterbedingungen seien perfekt. Und noch während die Stimme von Mark Behrend durch die Bordlautsprecher schallt, läuft das Schiff bereits mit voller Kraft voraus in den Südosten Südgeorgiens.
Umtrunk: Was kippt man zum Gedenken an einen Seemann? Genau, Aquavit. Empfangskommitee: Am Strand von Gold Harbour warten Königspinguine und Seeelefanten. Küssende Robben? Die verlassenen Jungtiere suchen Nahrung und nuckeln an allem, was eine Zitze sein könnte
Es wird der heitere Abschluss eines düsteren Tages. Königspinguine und eine große Kolonie Seeelefanten bevölkern den grauen Strand. Wir sehen viele Beachmaster, so nennt man die Seeelefanten-Bullen, riesige Tiere, die leicht fünf Meter lang und drei Tonnen schwer werden können. Die meisten schlafen, lassen sich die vernarbte Haut in der langsam durch den Nebel dringenden Sonne wärmen. Einige aber robben mit erstaunlichem Tempo über den Sand. Wir beobachten einen großen jungen Bullen, der offenbar seinem Geschlechtstrieb folgt und sich über einige der kaum sechs Wochen alten Robbenbabys stürzt. Ein bizarres Schauspiel, das für die viel kleineren Tiere glimpflich ausgeht. Gerade die bezaubern einige Gäste. Kurz nach der Geburt verlassen die Weibchen ihren Nachwuchs und verschwinden wieder ins Meer, die Neugeborenen müssen lernen wie sie selbst klar kommen und nuckeln anfangs an allem, was ihnen eine Mutterbrust ersetzen könnte – etwa Fotostativ oder Gummiestiefelspitze.
Schlafnasen, Schreihälse und neugierige Jungtiere: Gold Harbour wurde von Robbenjägern so benannt, weil in der Abendsonne die Felsen so schön leuchten
Am späteren Nachmittag kräuselt sich aus nahezu heiterem Himmel das Meer. Ein katabatischer Wind. Doch er bleibt eine Brise, kein Schiffshorn muss tuten, um die Anlandung zu beenden. Noch auf dem Strand und bei der Überfahrt im Zodiac zurück zum Schiff erzählen wir uns, was wir an Land gesehen haben. Viele Passagiere sind völlig geflasht von ihren Erlebnissen in Gold Harbour. Und werden dann vom Kapitän zurück geholt auf die Planken der Tatsachen: „Ein Sturm zieht auf. Um die höchsten Wellen zu umgehen, werden wir einen Umweg fahren. Dennoch wird sich das Schiff bewegen.“ Wie hoch die Wellen sein werden, fragt ein Gast. „Fünf bis sechs Meter. Es können auch ein paar Acht-Meter-Brecher dabei sein.“
Sie kommen als Freunde: Einst war der Strand von Gold Harbour ein Reiseziel vor allem für Robbenjäger, heute besuchen nur noch Touristen die keine Scheu zeigenden Seeelefanten