Er erwischt einen eigentlich eher mittendrin, wenn man bereits seit Wochen auf Reisen ist, wenn man anfängt die Heimat zu vermissen, wenn die erste Vollkornbrot-Fata-Morgana kommt. Wenn man sich nach sauberen Toiletten sehnt und der Selbstverständlichkeit, in der eigenen Sprache zu kommunizieren. Wenn man schon so oft Durchfall gehabt hat, dass man es müde ist, Getränke und Lebensmittel nur noch danach zu bewerten, ob sie krank machen. Wenn man sich im x-fach ausgewaschenen T-Shirt nicht mehr sehen kann. Wenn man Sehnsucht hat nach einem Moment der Ruhe, in dem man auf keine Tasche aufpassen, keine bettelnden Kinder abwehren muss, denen man gerne Geld gäbe, bloß reicht es ja so kaum für die nächsten Wochen. Wenn der Erinnerungsspeicher so voll ist, dass man sich fast leer fühlt, müde, dann kommt er zuverlässig – der Reiseblues. Plötzlich schlägt all das Glück der Reise ins Gegenteil um, und man könnte grundlos in Tränen ausbrechen.
Susanne hat ihn jetzt schon, einen Monat bevor es überhaupt los geht. Sie sitzt hinter ihrem Laptop am Küchentisch und liest laut aus den Reisehinweisen des Auswärtigen Amtes für Indien vor, denn wir planen, an einer Trekking-Tour durch Garhwal teilzunehmen, im nordindischen Himalaya: Dass Touristen in Delhi oft über die aggressiven Methoden klagen, mit denen sie von Tour-Anbietern genötigt werden, überteuerte Ausflüge zu kaufen. Dass die Gefahr terroristischer Anschläge nach wie vor sehr hoch sei, dass nach mehreren Bombenanschlägen mit einigen hundert Todesopfern zuletzt im Juli 2011 in Mumbai viele Passanten von einer Bombe getötet wurden. „Und im September explodierte vor dem High Court in Delhi ein Sprengsatz“, liest Susanne vor, „zahlreiche Menschen wurden getötet und verletzt. Ausländer kamen nicht zu schaden.“ Sie schaut auf. „Das war vor neun Monaten!“
Reisehinweis des Auswärtigen Amtes für Indien
Der Eintrag des Auswärtigen Amtes zu Indien ist lang, sehr lang: Diverse Landesteile werden abgehandelt, es geht um Bombenattentate und Unabhängigkeitsbestrebungen, um kriminelle Banden und Streiks, um Reisende, die nur bei Tageslicht unterwegs sein sollten, um Trekker, die nur ausgewiesenen Führern vertrauen dürfen, und es wird davor gewarnt, an einsamen Plätzen zu zelten, nicht zuletzt weil es keine Nothilfe für Such- und Bergungsaktionen im Hochgebirge gebe. Nach den Gefahren durch Kriegshandlungen, Terrorismus und mangelnde Infrastruktur erwähnt die Website noch die gesundheitlichen Risiken im Land: Malaria, Dengue Fieber, Tollwut, Durchfallerkrankungen, Vogelgrippe, japanische Enzephalitis. Susanne klappt den Laptop zu. Schweigsam und sichtlich erschrocken sitzt sie am Küchentisch. Es würde nicht überraschen, begänne sie jetzt von einer Trekking-Tour durch Niedersachsen zu schwärmen.
Reisehinweis des britischen Außenministeriums
Ich verschlimmere die Lage noch, indem ich vorschlage, die Website des britischen Außenministeriums aufzurufen. Ich hatte die Hoffnung, dass man auf der Insel leichter umgeht mit den schwierigen Bedingungen im einstigen Commonwealth, doch das erweist sich als Trugschluss. Das britische Außenministerium ist in der Chronologie noch genauer, jeder Vorfall wird erwähnt, sogar die Zahl der Opfer aufgelistet. Wir erfahren vom Streik bei Air India im Mai, an dessen Folgen die Airline noch immer laboriere, wir lesen von der Entführung zweier Italiener im März, von der Attacke auf den Wagen eines Israelis, und dass beim Bombenanschlag im September unter anderen ein Brite ums Leben gekommen ist. Das Land, auf das wir beide so neugierig sind, wirkt von Meldung zu Meldung abweisender.
Doch gilt das nur für Indien? Wir klicken uns durch die Reisehinweise für Nepal, Tibet, Bhutan und Bangladesh. Stützt man die eigene Einschätzung nur auf die offiziellen Reisehinweise, scheinen bis auf Bhutan alle Staaten im Himalaya eine Herausforderung zu sein, und in Bhutan kann man nicht so ohne weiteres individuell reisen. Alle Touren durch das Land müssen bei registrierten Veranstaltern gebucht und von registrierten Veranstaltern durchgeführt werden. Das kostet 240 US-Dollar pro Person pro Tag, in diesen rund 190 Euro sind immerhin alle Leistungen – Unterkunft, Essen, Reiseführer – enthalten. Bhutan dürfte damit der einzige All-Inclusive-Staat der Welt sein. Und damit ist das am freundlichsten wirkende Land in der Region, in dem das Recht auf Glück sogar in der Verfassung steht, für uns leider zu teuer. Pech gehabt.
Will man offen sein für verblüffende Momente – oben: kurz vor Sonnenaufgang kommt das Frühstücksboot und beliefert die Besatzungen der auf dem Mekong ankernden Handelsschiffe mit Brötchen und Kaffee –, ist Angst kein guter Ratgeber
Wir brauchen einen Moment, um uns von der einschüchternden Wirkung der geballten, schlechten Nachrichten zu erholen. Und beginnen schließlich die Reisehinweise mit unserem Vorhaben abzugleichen. Wir sammeln Informationen, etwa von Peter, der in der GEO-Reisecommunity über seine Erfahrungen berichtet. Wir lesen im Trekkingforumüber die Region, in die wir reisen wollen. Wir planen ein Trekking in Garhwal, der indische Bundesstaat liegt nördlich von Delhi, unser Ziel ist das so genannte „Nanda Devi Sanctuary“. Mehrere Gletscher, Felswände wie ein natürliches Amphitheater, die Quelle des Ganges, und der fast 8000 Meter hohe Nanda Devi. Der Berg, dessen Name etwa „Göttin der Freude“ bedeutet, ist der zweithöchste Indiens, unter den höchsten Gipfeln der Welt nimmt er Rang 23 ein, aber seine 3.300 Meter steil aufragende Wand macht ihn zu einem Giganten – jedes Jahr pilgern tausende Inder hierher. Der Nationalpark ist ein UNESCO-Weltkulturerbe, es wird gepriesen für die Schönheit des „Tals der Blumen“, für den weißen Rhododendron und für den Anblick, der ehrfürchtig macht.
Und je mehr wir uns mit dem Ziel unserer Reise befassen (links ein Auszug aus dem Programm von Diamir-Reisen), umso mehr erstarkt wieder die Sehnsucht in uns. Wir überprüfen, inwiefern es für die rund 500 Kilometer von Delhi entfernte Region Garhwal selbst ernstzunehmende Reisehinweise gibt – und finden keine. Auch im Trekkingforum gilt dieser Teil des indischen Himalayas als unbedenklich. Bis wir lesen, dass auf dem Weg in den Norden ein alleinreisender, irischer Journalist verschollen ist. Man fand nur noch Zelt, Schlafsack, Kleidung und Reiseunterlagen. Ein Überfall? Schwer zu sagen. Der in Hongkong lebende Redakteur der International Herald Tribune hatte seinen Job gekündigt, sich von seiner Freundin getrennt, zudem hatte man ihm Nierenstein diagnostiziert…
Erneut klappt Susanne den Rechner zu. Ihr Gesicht ist ruhig. Es ist wie so oft, je intensiver man sich mit einem Reiseziel befasst, je mehr man über die Umstände erfährt, die zu gefährlichen Situationen führen, je besser man Entfernungen einordnen kann, je klarer wird, welche Ethnien oder religiöse Gruppen gegeneinander kämpfen, desto eher weicht die Angst. Die letzten Takte des Blues verklingen. Ja, wir werden aufmerksam sein müssen.